Tagebuch eines 90jährigen: Teil zwei

Tagebuch, wie gut, dass ich Dich habe,

mein Weib macht zwar ein paar seltsame Dinge. Doch Anstalten, meinen Geburtstag nochmal mit Jugend zu füllen, sehe ich entschwinden. Ausserdem geht es mir heute morgen nicht so gut und ich habe ein paar Gedächtnisdurchhänger wie in letzter Zeit schon öfter. Ich sollte wohl mehr Klavier spielen, damit die paar Zellen in meinem Kopf nicht noch fauler werden.

Das Wetter ist nicht hilfreich meine Stimmung zu heben und so werde ich wohl auch das Geschreibsel einstellen, um ein Nickerchen zu machen. Also bis später.

Seit einer Stunde bin ich wieder wach. Meine liebe Frau hat ein bisschen Deko gemacht, wie sie sagt, um uns zu erfreuen. Über die Truhe ist eine Tischplatte gelegt, die am langen Ende abgestützt ist. Darauf hat sie–eigentlich ganz hübsch–grüne und weisse Tischdecken im Wechsel gelegt. Anschliessend fing sie an Vasen mit Rosen und Tulpen oder so etwas ähnlichem zu füllen. Was soll das? Frage ich mich.

Zu meiner Überraschung stellt sie ein frisch gemaltes Bild auf diese dekorierte Platte und fragt mich, wie ich das Bild finde. Das habe ich nicht so gern, denn ich brauche immer schrecklich viel Zeit, um mich zu entscheiden, ob das Bild gelungen ist oder nicht. Bin schliesslich 90.

Und natürlich schlafe ich darüber wieder ein.

2 Stunden habe ich geschlafen und zu meiner Überraschung rennen mein Weib, meine Kinder und Schwiegerkinder durch die Gegend und irgendwie ist Aufruhr. Und mitten in dieses Chaos stösst unsere Nichte aus Kassel–die nächste aus Hamburg–beide mit ihren Männern und dann hebe ich schnuppernd die Nase:

Die grün-weisse Platte über der Truhe ist voller Holzbretter und Silberteller mit Käse, Wurst, Schinken, Obst, Würstchen und keine Ahnung was noch beladen. Wie beim „Tischlein deck Dich.“ Meine Schwiegertochter lässt Rosenblätter oder sind es doch Tulpen auf uns niederrieseln, während nun auch schon die Darmstädter, Bremer und Freiburger Nichten und Neffen hineinströmen. Gläser klimpern, Prosecco kitzelt an meiner Nase und nun höre ich auf zu träumen, mache die Augen ganz weit auf, um Realität in meinen wirren Kopf zu lassen.

Unfassbar, meine knackige junge Verwandtschaft kommt angedackelt und gratuliert mir altem Kerlchen nochmal zum 90.

Und als unser Enkelsohn mitten ins Grummeln und Lachen hinein sein eigen für mich gedichtetes Poem vorliest, fliessen mir Freudentränen über das Gesicht.

Kann es sein, dass unser junges Gemüse aus allen Teilen Deutschlands nur meinetwegen angereist ist? Kann es sein, dass das Gedicht nur für mich ist, die Muscheln nur meinen Namen tragen?

„Es ist echt toll Dich als Grossvater zu haben,
denn Du bestehst aus vielen Farben….“

Ich lese später nochmal in Ruhe das ganze Gedicht, wenn die Tränen nicht mehr fliessen. Jetzt muss ich erst einmal sehen, ob ich noch mein junges Gemüse wirklich erkenne, was gekommen ist, mit mir zu feiern.

Und dann schenkt man mir noch eine Decke mit vielen aufgedruckten Familienfotos und dem Text „Deine Familie umarmt Dich.“

Ich kuschel mich in die weiche Decke. Ich glaube, für ein Paar Minuten muss ich nochmal die Augen schliessen. Und wenn ich sie dann wieder aufmache, bin ich gespannt, was ich sehe.

Ich zähle bis 10 und nochmal bis 10, weil ich mich nicht traue die Augen zu öffnen. Und dann….. „Happy Birthday“.

Und da steht fast meine gesamte Wahverwandtschaft. Danke, Danke!