Nachdem meine Mutter nach einem schweren Schlaganfall in ein Heim kam, weil—wie die Ärzte sagten—sie nur noch eine Hülle sei und nicht mehr behandelbar—die Betten für frische Fälle gebraucht wurden, waren wir Kinder alle überfordert. Sie war einseitig gelähmt mit ihren 91 Jahren, konnte nicht mehr sprechen und somit blieb uns nur das Heim als Lösung. Zwei meiner Brüder, die vor Ort wohnten, waren sehr krank, ein anderer Bruder beim Militär und meine Schwester und ich wohnten nicht vor Ort. So entschieden wir uns gemeinsam, sie in ein nettes Heim zu bringen, um sie versorgt zu sehen.
Als erstes suchten wir uns einen Logopäden, weil wir nicht glauben konnten, dass unsere Mutter nie wieder sprechen würde. Wir hofften, sie könnte uns dann sagen, was sie wirklich wollte.
Eigentlich war alles umsonst. Sie lernte nicht wieder, sich zu artikulieren, sie konnte sich kaum bewegen trotz täglichen Muskelaufbau und uns blieb nichts als zuzuschauen.
Doch schon nach ganz kurzer Zeit fingen wir an, Pläne zu schmieden: Als erstes sollte wenigstens jeden Tag einer unserer Geschwister bei ihr gewesen sein, egal von wo er kommt. Und als Zweites legten wir ein Buch an, in dem jeder eintragen sollte, was er an seinem Besuchstag mit unserer Mutter unternommen hatte.
Der Logopäde blieb bei ihr, bis er nicht mehr daran glaubte, dass sie nochmal sprechen würde.
Es ist verlorene Liebesmühe“,
meinte er und hörte dann auf, mit ihr zu arbeiten.
Jeder von uns machte etwas anderes mit ihr, aber immer das, was er konnte. Der eine las vor, der andere erzählte viel, mein älterer Bruder streichelte ihre Hand und war ganz bei ihr, meine Schwester übte mit ihr verschiedenes, was gut war, sie aber sehr ermüdete, ich spielte Klavier, was sie mochte. Sie war ausgebildete Sängerin und ich dachte, dass Musik sie vielleicht erinnern würde. Und so kamen manches Mal auch Reaktionen, wenn ihr bei einem Musikstück Tränen über die Wangen liefen.
Ich spielte nun also öfter Klavier und mein Mann sang einfach dazu. Das gefiel ihr. Nur als nach einiger Zeit auch die anderen Heimbewohner immer öfter ins Musikzimmer kamen, um mir zuzuhören oder auch meinem Mann, manchmal auch nur ein bisschen mitsummten, das mochte sie dann nicht. Ich glaube, sie wollte uns für sich alleine haben.
Ihr Zustand veränderte sich kaum, doch sie erkannte uns alle, brachte aber keinen Namen heraus.
Und Reaktionen zeigte sie nur bei der Musik, der sie lauschte.
Zwei Tage vor Weihnachten waren wir wieder zu Besuch. Ich hatte durchgelesen, was unsere Geschwister alles mit unserer Mutter unternommen hatten: vom Friseurbesuch bis zu einer Gemäldegalerie, auf die sie ebenfalls reagiert hatte, war doch ihr Vater ein großer Maler und Glaskünstler gewesen, hatten sie schon einiges mit ihr im Rollstuhl unternommen.
Wir kamen im Heim an und es roch nach Gemütlichkeit, Kaffee, Kuchen und brennende Kerzen. Diesmal gingen wir sehr schnell ins Klavierzimmer, weil sie dahin drängte. Ich fing an zu spielen. Es waren einfache Weihnachtslieder und ich spielte gerade „Kling Glöckchen Klingelingeling“, da kamen schon im Takt wippend die ersten Heimbesucher an und summten mit. Meine Mutter schaute auf ihre Hände und war wieder ganz unzufrieden.
Warum?“, dachte ich,“was hat sie?“
Ich spielte weitere Stücke und dann am Ende mein Lieblingslied „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Ich begann ganz langsam und auf einmal sang meine Mutter dieses Lied mit fast so kraftvoller Stimme wie zu alten Zeiten und dem richtigen Text dazu. Zwei Strophen, allerdings beide Male war es der gleiche Text. Aber egal. Das Stück war zu Ende und einen Augenblick lang war Totenstille im Raum. Doch dann fingen alle an zu klatschen und wollten damit nicht aufhören, weil es für sie ein Wunder war. Meine Mutter in ihrem Rollstuhl neigte einmal den Kopf, griff nach der Hand meines Mannes, der ihr half, ihren Arm nach oben zu heben, weil sie sich bedanken wollte. Sie ließ den Arm wieder fallen und während ich nochmal „Stille Nacht, heilige Nacht“ spielte, gab sie ihrem Schwiegersohn ein Zeichen, dass sie nun weg wollte.
Und während sie seine Hand festhielt, rollte sie mit dem Wagen in ihr Zimmer. Sie hatte rosige Wangen und ein Lächeln auf den Lippen. Und ich eine Gänsehaut.
Ich spielte das Lied zu Ende und ging hinter meinem Mann in ihr Zimmer. Man hatte sie schon aufs Bett gelegt und mit einer Wolldecke zugedeckt, da drückte ihr Lächeln noch immer Glückseligkeit aus. Und auch die Wangen verloren nicht ihren rosaroten Schimmer so wie früher.
Ich glaube, alle meine Geschwister hatten noch schöne Momente mit meiner Mutter. Doch unser Augenblick mit ihr war der größte sie noch einmal singen gehört zu haben, ehe sie für immer verstummte.