Auf dem Weg zur sterbenden Mutter

Dr. Wegener rannte eiligst die Treppen runter, denn er war mal wieder zu spät und kein Vorbild für sein Team im Krankenhaus, zumal er auch immer noch irgendwelche Patienten auf seinem Weg besuchte und behandelte.

Er warf die Tür hinter sich zu, um zum Auto zu laufen, das er um die Ecke geparkt hatte. Ein kleines Mädchen stand ihm im Wege und als er bemerkte, dass es weinte, fragte er kurz, ob es Schmerzen habe und ihm etwas fehle. Die Kleine meinte nur „Nein, ihr fehle nichts“, und schon war er weiter gerannt und schnell bei seinem Auto. Er stieg ein, überlegte allerdings noch, ob er der Kleinen irgendwie helfen müsse und wendete auf der Straße den Wagen, um nachzuschauen, ob sie noch an der Türe stünde.

Das Kind war verschwunden und so fuhr er los schnell zu den zwei Patienten und dann ins Krankenhaus, wo ihn seine Oberschwester schon empfing mit den Worten: „Wie immer zu spät! Teilen Sie sich doch mal in zwei Teile, dann kommt wenigstens der eine Teil pünktlich bei uns an.“ Kurz berichtete die Schwester den Tagesablauf, während er sich umzog und die Hände wusch. Sie informierte ihn vor allem, dass Patientin X den Tag wohl nicht mehr überleben würde.

Sind die Angehörigen benachrichtigt worden? Haben Sie schon mit ihnen gesprochen? Ich komme gleich dazu.“

„Es war noch keiner da,“ antwortete die Schwester. „Im Augenblick ist Dr. Braue bei der Patientin.“ – „Wie lange ist das her?“ – „Vielleicht eine halbe Stunde,“ meinte die Schwester. „Ich gehe jetzt zu meiner Patientin,“ sagte Dr, Wegener erschüttert und eilte durch den langen Gang zur Intensivstation. Wie immer, wenn einer seiner Patienten starb, fühlte er sich schwach und hilflos.

Er öffnete leise die Tür und trat neben den anderen Arzt.

„Es geht zu Ende,“ murmelte er leise. „Kommen noch die Angehörigen, dann sollte man sie gleich hier auf die Intensivstation führen, damit sie keine Zeit mehr versäumen. Wir beide wissen, wie wichtig der Abschied ist.“

Hinter der Türe hörten sie eine Mädchenstimme, die ihre Mutter verlangte und Dr. Wegener öffnete, das Mädchen trat ein mit verweintem Gesicht und er erkannte in ihr die Kleine von der Straße. „Mama, ich konnte nicht schneller kommen, mein Fahrrad wurde mir gestohlen,“ schluchzte die Kleine, „und so musste ich den ganzen Weg hierher laufen. Wie geht es Dir? Mama? Was ist mit meiner Mama?“ – „Lass Deine Mama gehen,“ flüsterte Dr. Wegener den Tränen nahe, „Deine Mama wird nun für immer schlafen. Sie ist so müde! Aber wenn sie jetzt für immer einschläft, hat sie nie wieder Schmerzen!“ Es wurde sehr still im Raum, die Mutter atmete nicht mehr.

Und während das Kind ganz leise weinte, streichelte Wegener seinen Kopf, immer und immer wieder und bat in Gedanken um Verzeihung, weil er dem Kind nicht zugehört hatte. Dann fragte er, ob und wann noch der Papa käme und die Kleine sagte, dass sie niemanden mehr hätte. „Mama hat gesagt, wenn sie sterben würde, müsste ich ins Waisenhaus. Ich will aber in kein Waisenhaus. Ich will meine Mama.“

Dr Wegener winkte alle hinaus und blieb mit der Kleinen zurück. Dann setzte er sich neben sie und während sie weiter weinte, betete er leise neben ihr. Wann hatte er das letzte Mal gebetet? Aber jetzt brauchte er das Gebet, um nicht zu ersticken. Würde man ihm verzeihen? Würde er sich selbst verzeihen können? Hätte die Mutter ein letztes Wort für ihre Tochter gehabt? 

Irgendwie war er nach dem Gebet getröstet und wusste, er würde, auf welche Art auch immer, Verantwortung für dieses Mädchen übernehmen. Und nun wagte er auch, seinen Arm um ihren kleinen Körper zu legen und zusammen mit ihr zu trauern. „Und verrätst Du mir jetzt Deinen Namen, Mädchen?“

Christina!“