Bin ich verrückt oder werde ich blind?

Gerade hatte ich meine Schwägerin zur Bahn gebracht, da passierte etwas mit meinem linken Auge. Mir fiel eine Haarsträhne ins Gesicht, aber es gab keine Haarsträhne. Bis ich das jedoch bemerkte, war ich schon vor der Haustür angekommen. Und inzwischen wurden es immer mehr Strähnen. Ich rannte in die Wohnung und direkt vor den Spiegel. Da konnte ich nichts sehen außer zwei Augen, die in den Spiegel starrten. Dann aber wurde das linke Auge allmählich blind und vor dem Auge oder auf der Oberfläche oder darunter floss eine hellbraune Farbe. Was war denn das? Ich wischte über das Auge, es tat nicht weh und nichts veränderte sich. “Werd nicht verrückt,” sagte ich mir. “Morgen Früh gehe ich gleich zum Arzt . Doch vielleicht ist bis dahin möglicherweise das Auge wieder in Ordnung.”

Am nächsten Morgen war alles noch genauso irritierend und so rief ich meine Augenärztin an und fragte, ob ich kommen könne.Die Sprechstundenhilfe sagte nur, dass die Ärztin in Urlaub sei.  So meldete ich mich im Krankenhaus an, wo ich noch am Nachmittag erscheinen konnte. Inzwischen hatte ich bräunliche Raster vor dem Auge und es schien, als  ob bei jedem Herzschlag ein rosa Punkt auf der Oberfläche des Auges erscheinen würde.  Hin und wieder tauchten nun auch dunklere Farbkleckse auf und es sah so aus, als tupfe jemand sanft und mit viel Farbe im Pinsel ins getönte Wasser im Rhythmus meines Herzschlages. Solange noch genug Licht in mein Auge fiel, war es nicht so arg mit dem Erschrecken, dass mein Auge nichts mehr wahrnehmen konnte, denn die hellbraune Flüssigkeit war noch keine Bedrohung für mich. Mehr Irritation. Auch das nicht mehr Dreidimensional-Sehen war eher nur ärgerlich.

Es tat ja nichts weh.

Als der Arzt meine Augenuntersuchung beendet hatte, schickte er mich wieder nach Hause, denn in der Tat, so meinte er, solle ich mich gut ausruhen für ein paar Tage, denn da das Auge noch nicht dunkel verfärbt sei, könne es durchaus wieder selber zur Ruhe kommen. Das sei Blut und ich hätte Löcher in der Netzhaut. Schon der Maler Munch habe so etwas selber bei sich ausgeheilt ohne zu wissen, was er eigentlich hatte.

Das versprach ich und tat es auch. Schließlich ist es ja nicht schlecht, wenn man um eine Operation herum kommen kann.

So beobachtete ich mein Auge und die Veränderungen mit großem Interesse. Manchmal bildeten sich Schlangen im Auge, die leicht dunkelbraun gefärbt waren und mich an Nessie erinnerten. Ein anderes mal machte ich leichte Kopfbewegungen und aus den Schlangen wurden Vogelschwingen. So konnte ich ohne Anstrengung meine Farben und Formen bewegen wie ich wollte.

 Ich habe in diesen wartenden Wochen wie auf einer Insel gelebt  Das Auge, die Farben und ich im Gespräch miteinander. 

Dann aber ging es wirklich schnell. Mein Auge verfärbte sich dunkel und ich wurde operiert.

Alles ist dann gut gegangen. Aber das erzähle ich beim nächsten mal, denn dabei habe ich etwas Tolles erfahren.