Bruder, wo bist Du jetzt?

Ich hatte mal einen Bruder…

Durch ihn habe ich meinen ersten Zahn verloren – er war so ein hübsches Kind und er hatte lange Locken. Ich flocht ihm Zöpfe,  die ich mit Zwirn abband. Er ließ sich das gefallen, bis sein wilder Zwillingsbruder rief:

„Du siehst aus wie ein Mädchen!“ – Und mein sanfter Bruder wurde das erste mal wütend auf mich und rief, ich solle ihm die Zöpfe wieder wegnehmen. Er sei kein Mädchen! Der Zwirn aber hielt die Zöpfe so fest, dass ich sie mit den Zähnen auseinander reißen musste. Dabei verlor ich meinen ersten Zahn. 

Durch ihn habe ich das erste mal gemerkt, wie viel Angst ich um ihn haben könnte.

Wir spielten in den ersten Nachkriegsjahren am Straßenrand mit etwas Sand, der dort lag, als ein schwarzes Auto, damals waren alle Autos schwarz, langsam unsere Straße entlangfuhr. Kurz bevor es uns erreichte, öffnete sich eine Türe und eine Person riss meinen Bruder ins Auto hinein. Ich schrie so laut, dass mein Vater sofort aus dem Büro gerannt kam und auf der anderen Seite gleich zwei Nachbarn drohend auf die Straße liefen, so dass die Leute aus dem Auto meinen Bruder sofort losließen, ihn rausschupsten und ganz schnell davon fuhren. Die wollten ihn klauen. Nach dem Krieg verschwanden viele kleine Kinder. Und wenn ich nicht so laut geschrien hätte, wäre er heute vielleicht nicht mehr da.

Wegen ihm kam ich einmal zu spät in die Schule. Ich sollte einen Augenblick auf meinen Bruder aufpassen. Meine Mutter wollte gleich wieder zu ihm ins Schlafzimmer zurückkommen, denn er war krank und es ging ihm nicht gut. Er saß in seinem Bett und plötzlich musste er sich übergeben und fiel um. Ich hielt ihn ganz fest, denn er sollte sich nicht wehtun. Dabei hatte er mich ohne Absicht vollgespuckt und als meine Mutter wieder zurück ins Schlafzimmer kam, sah sie, dass ich ganz schmutzig war. Sie half mir ihn und mich sauber zu waschen. Dann zog sie mir frische Kleider an, die eigentlich meine Sonntagskleider waren, und schickte mich lächelnd in die Schule.

„Gut gemacht“,

sagte sie nur. Der Lehrer schimpfte nicht.

Viele Jahre später, als jeder von uns schon längst verheiratet war, brachte er mir über viele Kilometer in Eis und Schnee einen großen alten Schrank in einem Anhänger in mein neues Zuhause, weil er es mir versprochen hatte. Das war fast lebensgefährlich, denn der Anhänger verweigerte öfter den Weg. Und dabei hatte er noch Kind und Frau im Auto. Die machten aber lächelnd alles mit. 

Durch ihn habe ich auch gelernt mich ein bisschen gern zu haben, denn ich glaube, dass ich als Kind viel heulte und alles dramatisch fand. Und das muss schrecklich gewesen sein für die anderen. Aber er gab mir immer das Gefühl eine tolle Schwester zu sein. Und für meinen Mann war er der beste Freund.

Wohin bist Du jetzt gegangen?