Darf eine alte Freundschaft so zerstört werden?

Hannelore und Anna Maria waren zwei Freundinnen, die sich allerdings in den letzten 20 Jahren nicht mehr gesehen und gesprochen hatten. Aber sie wussten, dass sie beide zeitlebens Freundinnen bleiben würden.

Und eines Tages rief Hannelore an. Sie hatte oft nach der Adresse der anderen gesucht, bis ihr einfiel, dass sie die Geschwister der Freundin anrufen könnte, da sie von denen wusste, dass sie noch in Kassel lebten.

Und so kam endlich nach so langer Zeit ein Gespräch zustande. Sie meldete sich und Anna Maria fiel fast aus den Wolken vor Freude, wen sie da an Telefon hatte und meinte gleich: „Ich wusste nicht, wo ich Dich suchen sollte. Deine Kassler Adresse gibt es nicht mehr, Euer Familienhaus steht auch nicht mehr, denn einer meiner Brüder hat in der Straße nach Deiner Familie sehen wollen,hat aber die Straße nicht mehr gefunden.“ — „Ja, die Straße gibt es nicht mehr und meine ganze Familie ist in alle Winde zerstreut.“

„Na, dann konnte ich Dich wirklich nicht finden. Ich habe mir auch nicht Deinen neuen Familiennamen aufgeschrieben, denn ich dachte , dass ich den nicht vergessen würde. Für mich warst Du immer Hanni oder Hannelore.“ „Wie gut, dass es noch Deine Brüder gibt, denn so bin ich an Deinen Nachnamen geraten, den ich auch nicht hatte. Wir sind schon zwei dumme Hühner. Aber wie geht es Dir denn?“

„Abgesehen davon, dass ich alt und vergesslich geworden bin, geht es mir gut,“ meinte Anna Maria, „mein Mann und ich geniessen dieses geruhsame Leben und von Zeit zu Zeit mache ich noch ein paar Ausstellungen.Und wie sieht es bei Dir aus, geliebte Hanni?“ — „Na, nicht ganz so gut, doch immerhin noch so, dass ich Schreiben und Malen kann. Und als ich meine kleine Geschichte fertig hatte, dachte ich sofort an Dich, um sie Dir zu schicken. Es ist mein erstes kleines Büchlein über Schnecken, die geliebten und die ungeliebten, Du weisst, die alles auffressen, was uns im Garten heilig ist. Ich wollte wissen, wie Du sie findest.“ — „Oh, ja, das interessiert mich sehr. Hast Du auch Zeichnungen dazu gemacht?“, fragte dann Anna Maria. „Klar, im Gegensatz zu Dir und Deinen tollen Portraits konnte ich immer nur Tiere zeichnen oder malen. Und es sind mir ein paar ganz nette Bildchen gelungen.“ — „Na, dann schick sie mir mal schnell, damit ich das mitbeurteilen kann, wie gut das Ganze geworden ist,“gab Anna Maria zurück.

Ich hatte, nachdem ich Dich ja zunächst nicht gefunden hatte, die Geschichte an mehrere Verlage geschickt. Aber die waren nicht interessiert.“

„Na, ich tröste mich immer damit, dass Francoise Sagan ihr hochinteressantes Buch ‚Bonjour tristesse‘ fast 100 mal verschickte an viele Verlage, dann, als sie fast schon aufgeben wollte, nahm es ein kleiner Verlag und das Buch wurde ein Welterfolg. Der einzige Unterschied war, dass sie über Sex und Befreiung der Frau geschrieben hatte — wie interessant — und ich damals nur ein kleines Kinderbuch zustande gebracht hatte,“ erwiderte Anna Maria.

„Noch eine Kleinigkeit habe ich vergessen,“ gab dann Hanni an, „ich habe seit Jahren Multiple Sklerose und bin inzwischen sehr eingeschränkt. Mein Mann und meine Tochter helfen mir zwar, aber das ist nicht immer so lustig. Und meine Tochter geht nun mit ihrem Mann nach England. Sie werden dort leben. Dann bin ich hier allein mit dem meinigen und ich weiss nicht, wie viel Lust er haben wird, mir beim Buch verschicken zu helfen.“

„Weisst Du was? Schick mir Dein Büchlein, ich mache mir eine Kopie davon und schick Dir das Original zurück. Auf diese Weise können wir beide daran und damit arbeiten. Aber sag mal, wie schlecht ist es bei Dir, wie weit ist Deine MS schon gekommen.“

„Die Beine kann ich nicht mehr ausstrecken, jetzt sind die Arme dran und mit den Augen komme ich auch schon nicht mehr so ganz gut zurecht. Bei mir hat man das ziemlich spät entdeckt. Und dann ging es schneller als ich dachte. Naja, damit muss man leben.“

„Ach, das tut mir so leid,“ bedauerte Anna Maria das Schicksal ihrer Freundin.“ Weisst Du, ein Grund mehr, um Deine Arbeit an den Mann oder die Frau zu bringen. Schickt Dein Mann mir das Büchlein noch heute?“

„Nein, aber meine Tochter,“ erwiderte sie. „Lass uns noch ein bisschen über anderes sprechen. Ich bin froh, dass ich Dich endlich gefunden habe.“

Noch lange, nachdem sie aufgehängt hatten, dachten sie aneinander und Anna betrauerte dieses jämmerliche Schicksal, das Hanni getroffen hatte.

Von nun an riefen sie einander wenigstens einmal die Woche an. Anna Maria hatte inzwischen einen Verlag gefunden, bei dem man sich aber mit einem Anteil beteiligen sollte, wenn das Buch gedruckt würde. Das erzählte sie Hanni und als diese vehement verneinte und sagte, dass sei zu teuer und nicht gut, erwiderte Anna Maria, dass ihr Mann es gerne bezahlen würde, weil er das Büchlein so lesenswert fand.

„Nein,“ erhob Hanni ihre Stimme, „das will ich nicht. Entweder wird das Buch gedruckt, weil es gut ist oder gar nicht.“ — „Aber vielleicht haben sie es nicht gelesen, weil sie keine Zeit hatten oder…“ — „Nein, weisst Du, ich will wissen, was meine Sache wert ist. Und niemand soll dafür bezahlen.“

So blieb dieses Thema unbearbeitet, wie sie es wollte. Schade!

Wieder mal rief Anna Maria an und Hanni meldete sich nicht, doch am nächsten Tag klingelte sie erneut und glücklicherweise war sie dann am Apparat, klang jedoch sehr erschöpft.“ Ist etwas los, geht es Dir nicht gut. Sags mir bitte!“ — „Nein, alles in Ordnung. Aber nun ist meine kleine Tochter auf dem Weg nach England und ich bin ein bisschen traurig.“ — „Ja, das kann ich verstehen. Ich war auch ziemlich am Ende, als meine beiden Söhne uns so ziemlich zeitgleich verließen. Aber so ist das. Sie müssen nun ihr eigenes Leben leben:“ — „Ich weiss,“ flüsterte sie nun leise und „Gehab Dich wohl für heute!“. Hanne legte auf.

Tage darauf versuchte Anna Marie wieder anzurufen und mal war Hanni dann auch am Telefon oder auch nicht. Und wenn sie fragte, wann es für Hanni am besten sei, sie anzurufen, meinte Hanni nur sanft: „Versuch es, wann immer Du Zeit hast. Ich weiss nicht genau, wann mein Mann da ist, um mir das Telefon zu reichen. Außerdem muss ich nun oft Übungen machen mit einer Therapeutin und das fällt mir sehr schwer und ermüdet mich. Mein Mann ist Alkoholiker,“ schob sie noch leise hinterher.

Immer seltener war sie am Telefon. Nur noch einmal, so erinnerte sich Anna Maria, da meldete sie sich und dann hörte man nur ihren Mann, der sagte:

Jetzt nicht!“. Seine Stimme klang hart. Und Anna Maria fühlte sich schlecht.

Von da an jedoch konnte sie Hanni nicht mehr erreichen, weder morgens, noch mittags, noch abends. Keiner ging ans Telefon.

Etwa drei Monate später, oft und oft hatte Anna Maria zwischenrein versucht, sie zu sprechen, fuhr ihr Mann mit ihr nach München und sie bat ihn, auf der Rückfahrt über Augsburg zu fahren. Sie gab ihm Hannis Adresse und sie erreichten die Straße und die Hausnummer. Aber es gab kein Namensschild und alle Fenster waren fest verschlossen. Sie klingelte bei den Nachbarn. Eine jüngere Frau öffnete die Tür und fragte: „Bittschön, wos gibts?“. Sie fragte nach ihrer Freundin und sie sagte sehr bedauernd. „Es duad mir leid. I kann dös net sagn. Ihr Mo had gsagt, sie wolln auf oa Insel gehn und eana Ruah ham. Die arme Frau hod mir noch a kloans Bücherl für die Tochter gebn, zum Vorlesen. Und da hod er sie wegbracht. Duad mir sehr leid. Pfüa God,“ sagte sie noch und schloss die Türe. 

Anna Maria stand für Augenblicke ganz erstarrt und dachte an die letzten Worte von Hanni, die sie geflüstert hatte:

Er ist Alkoholiker.“