Das freche Rotkehlchen

Es war ein guter Tag für den Garten. Ich wollte meine Büsche schneiden und hatte große Lust einige meiner „Immergrünen“ kugelig zu frisieren.

Ich holte alle unsere Schneidegeräte aus dem Schuppen, um auszuprobieren, mit welchen ich bei der kleinen Thuja am besten gestalten konnte. Mein Mann stellte seinen Sessel nicht weit von mir auf, so dass wir mal wieder so richtig schön quatschen konnten.

Der Tag war nicht sonnig, aber sehr milde. Genauso erging es meinem Herzen. Die Vögel flogen um uns herum und ich hatte alle kitschigen Gefühle in mir.

Also fing ich an zu schneiden. Derweil erzählte mir mein Mann, dass er das Gedicht vom „Zauberlehrling“ noch auswendig könne. Große Leistung, meinte ich, denn man muss wissen, mein liebster Mann war immerhin schon 92 Jahre alt. Irgendwann kam er nicht weiter, so dass ich ihm im Text weiterhelfen musste. Bis zum Ende kam auch ich nicht mehr. Das Gedicht war doch sehr lang.

Um uns herum flog hin und wieder ein Rotkehlchen und steuerte meinen kleinen Busch von hinten an und verschwand. Aha, hier war sicherlich ein Nest. Also schnitt ich langsamer und nicht hastig, blieb in meinen Bewegungen in „Slow Motion“, weil ich den Vogel nicht erschrecken wollte.

Inzwischen kam ich beim Schneiden schon auf die höchste Spitze des Busches und versuchte weiche Übergänge zu schaffen. Unser Pieper flog weiter ein und aus und ich fing an mit ihn zu reden, erzählte ihm, was ich mit dem Busch vorhatte, aber auch bald aufhören würde zu schneiden.

„Nein, ich zerstöre Dir nicht Deine Einflugschneise, keine Angst. Ich höre wirklich gleich auf und Du kannst in Ruhe weiter Deine Kleinen füttern.“ Mein Mann lachte schon und fragte: „Glaubst Du, das Rotkehlchen versteht Dich?“ – „Ja, klar,“ gab ich zur Antwort, „schau mal, es wirkt kein bisschen nervös. es kennt uns doch schon lange!“

Just in diesem Augenblick flog die kleine Vogelmama auf meine Hand zu, piekste heftig hinein und drehte dann schnell ab.

Ich war erschrocken und geradezu überwältigt, als das passierte.

Unglaublich – das ist unglaublich! So ein kleiner Pieper verteidigt seine Brut und das gegen einen Riesen, der ich für ihn bin. Ich konnte es nicht fassen. Auch mein Mann schüttelte begeistert den Kopf.

Mein Tag war gelaufen. Ich sagte doch, dass ich alle kitschigen Gefühle in mir hatte. Und jetzt noch viel mehr.

Rotkehlchen