Einige von Euch haben nach meiner letzten Geschichte sehr traurig und geschockt reagiert. Das kann ich gut verstehen, weil die Geschichte auch wirklich traurig ist. Und sie ist noch trauriger, weil meine Freundin, der das eigentlich passiert ist, inzwischen auch weiß, dass die Tochter sich umgebracht hat. Ich selbst versuche durch diese Geschichten mich in Bildern auszudrücken, um so ein Schicksal zu verarbeiten.
Trotzdem — ich habe mich in den letzten Tagen aufgemacht, um nach positiven Dingen zu suchen. Auch das ist möglich. Positives fängt schon am frühen Morgen an, wenn Du aus der Türe schaust und die Zeitung steckt wie immer im Postkasten und wartet auf Dich.
Du gehst zurück in Deine Wohnung und begegnest noch dem Nachbarn, der Dich freundlich grüßt.
Du bereitest Dein Frühstück, liest die Zeitung und schaust mal nicht auf die schrecklichen Artikel, die Böses berichten. Stattdessen löst Du das Kreuzworträtsel auf Seite 5 und bist entzückt, weil Du mehr als die Hälfte der gefragten Worte herausgefunden hast.
Dann schaust Du auf den Kalender, was heute ansteht und richtest Dich wie ein Abenteuer darauf ein. Und Du freust Dich, weil Du alt bist und weißt, dass nichts mehr so richtig schnell geht. Das hilft sehr, denn ich weiß, ich darf langsamer sein als früher.
Das ist Luxus.
Du ziehst Dich an nach der Dusche und freust Dich beim Eincremen und Schminken, dass Du die hunderttausend Falten, die Du hast, auch haben darfst. Schließlich sind sie schwer erarbeitet.
Das einzige, worüber ich ärgerlich bin, ist mein Gang. Die Füße sind dauernd dick und geschwollen, tun weh, mir schwindelt ständig und die Luft ist ziemlich knapp. Aber das spüre ich und muss ich mir nicht ewig sagen.
Stattdessen nehme ich meine beiden Stöcke und behelfe mich damit beim Ausbalancieren meines Ganges. Das geht weitaus besser als ein Rollator, der mir dauernd davon fährt.
Ständig muss ich kreativ sein, wenn ich etwas tun will, was aber nicht mehr so gut geht. Zum Beispiel, wenn ich mit dem Bus, so wie heute, zur Therapie fahre, will ich mich nicht zu sehr beeilen, weil mich das aus der Puste bringt. Ich kann den nächsten Bus nehmen, weil ich genug Zeit mitbringe.
Wunderbar!
Nach der Therapie für meinen Rücken bin ich hinterher immer total kaputt. Aber kein Grund, um zu jammern! Ich fahre mit dem Bus nach Hause, wo mein geliebter Sessel steht, der mich `herzlich` empfängt. Der hat auch schon immer auf meinen Mann gewartet.
Jetzt ist der Sessel schon ziemlich schäbig, aber ich will keinen neuen kaufen.Und so habe ich beschlossen, ihn an allen Stellen, wo er schon runter gerubbelt ist, zu bemalen.
Wieder eine kreative Idee und somit Freude.
Heute habe ich übrigens auf dem Weg zur Therapie noch etwas Schönes erlebt. Eine junge Mutter saß neben mir, der Kinderwagen war leer, so dass ich zu ihr hin schaute. Dabei bemerkte ich, dass sie ihr Kind im Arm hielt, ein noch wirklich kleines, kleines Baby. Auf den zweiten Blick erst erkannte ich, dass sie dieses Kind stillte, sehr diskret und unauffällig. Ich sah sie an und wollte gerade etwas sagen. Da blickte sie zurück und legte den Zeigefinger auf die Lippen, weil ich schweigen sollte.
Sie saß da wie auf einer Insel, schützte sich und ihr Kind und lächelte. Als das Kind am Ende glücklich sein Bäuerlein gemacht hatte und noch ein bisschen Milch verlor, legte sie es ins Körbchen zurück und wandte sich mir zu. „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein. Aber wenn ich stille, bin ich allein mit meinem Kind und es existieren nur wir zwei, wo immer wir auch sind.“ Ich wehrte ab und meinte: „Ich wollte nur etwas Nettes sagen, nichts Wichtiges. Alles okay!“ — „Was wollten Sie sagen?“, fragte sie zurück. „Ach nur, wie schön es ist, Sie mit dem kleinen Kind zu sehen und nicht mit einem Handy in der einen und dem Baby in der anderen Hand.“ — „Geschenke muss man würdigen,“ meinte sie dann so selbstverständlich,“ und ein Baby ist ein Geschenk!“
Ich dachte bei mir:
Ja, auch ein ganzes Leben ist ein Geschenk!“
Als ich später in die Apotheke, die ich auch nur alle 14 Tage, wenn ich zur Therapie ging, besuchte, dieses mal um zu fragen,ob sie mein Lakritz aufbewahrt hätten, welches ich das letzte mal bei ihnen liegen ließ, antwortete die junge Apothekerin, die ich nicht kannte: „Das weiß ich nicht! Warten Sie einen Augenblick!“ Und dann brachte sie mir meine Lakritze, wobei ich nicht erwartet hatte, dass man sie 14 Tage lang aufbewahrte.
Wieder etwas zum Freuen!!
Das war ein wunderschöner Tag. Vom Aufstehen am Morgen mit Kopfschmerzen und der ersten Tasse Kaffee dann ohne Schädelbrummen. Und bis in den Abend, wo ich bei noch immer großer Hitze ein bisschen Regenwasser hatte, mit dem ich die Kräuter und Geranien begießen konnte.
Das Leben ist schön!
Mit der Vergangenheit, weil ich sie hatte,
der Gegenwart, weil ich sie jetzt lebe
und der Hoffnung auf Morgen,
weil da noch immer was Schönes kommen kann.