Das kleine Mädchen mit den halblangen, blonden Haaren starrte zum Fenster raus in den Himmel und träumte vor sich hin. Sie war 12 Jahre alt und ihr größter Traum war Schauspielerin, Tänzerin und Sängerin zu werden. Sie schaute auf die Äste der Bäume, die sich wiegten wie ihre Arme im Ballett.
Sie schrieb Gedichte, trug sie in der Schule vor und liebte es, auch Lieder in verschiedenen Sprachen vorzusingen. Ein glückliches Kind. Dafür war sie des Öfteren nicht so ganz in der Gegenwart. Manchmal trug sie verschiedene farbige Strümpfe oder zog auch mal den Pullover links herum an. Aber das lachte sie meist fröhlich weg und nannte sich eine zerstreute Professorin.
Auch für ihre Eltern war es klar: sie wird mal zur Bühne gehen, denn schon als kleines Kind liebte sie das Theater und lernte viele Texte auswendig. Und der Vater meinte oft, dass er wohl tüchtig würde arbeiten müssen, damit seine Tochter die Schauspielschule besuchen könnte. Die Kleine gab immer zur Antwort, dass sie fleißig sein wollte, um viel Geld für die Eltern zu verdienen, wenn sie mal groß sei und im Beruf stehen würde.
Dann wurde der Vater schwer krank und am Ende starb er. Sie alle waren sehr traurig und für lange Zeit wurden keine Pläne, keine Ferien, einfach nichts gemacht, denn das Geld wurde knapp und sie blieben für eine düstere Zeit in tiefer Verzweiflung.
Irgendwann aber musste es für alle weitergehen und das Leben holte sie wieder zurück. Das kleine Mädchen war inzwischen schon 13 Jahre und schob ihren wunderbaren Berufswunsch ganz weit weg. Nein, sie waren jetzt arm und die Mutter musste schwer arbeiten, um allen Kindern genug zu essen, zum Anziehen und zum Lernen mitzugeben.
Der Patenonkel
Eines Tages kam der Patenonkel des kleinen Mädchens zu Besuch und Mutter hatte endlich mal wieder einen Kuchen gebacken. Der Onkel war ein großer Musiker und spielte in seiner freien Zeit wunderbar Klavier. Und so auch an jenem Tag. Das gefiel allen sehr, denn er bewegte sich sehr rhythmisch dazu, so dass die Kinder alle mit hopsten.
Es wurde ein schöner Nachmittag und am Ende meinte der Patenonkel: „Da wir keine Kinder haben, würde ich Dir gerne helfen, Dein Schauspielstudium zu ermöglichen.“ Sie schaute ihn völlig überrascht an, um dieses Geschenk nach langem Zögern strahlend anzunehmen.
Danke, oh danke,“
schluchzte sie. Nun hatte sie wieder ein Ziel.
Keine 4 Monate später starb der Onkel bei einem Verkehrsunfall. Er war Fußgänger und starb, weil ein anderer nicht aufgepasst hatte. Es war für die Familien ein Drama, denn seine Frau konnte es kaum ertragen, dass es für sie keine wunderbare Musik mehr geben würde. Und den übrigen Trauernden fehlten die Worte.
Als endlich eine kleine Weile vergangen war, so dass nicht mehr alles zu schrecklich, nur noch schrecklich war, fing die Welt an, sich für ein bisschen Freude wieder zu drehen.Doch die frühere Leichtigkeit war fast ganz verschwunden und die Herzen getroffen. Wer machte nun noch Musik? Nur die Kleine selbst spielte Klavier.
Da meldete sich der Onkel aus Amerika, den alle lange nicht mehr gesehen und gehört hatten. Er war ein großartiger Geiger geworden, zog durch die Welt mit seinem Orchester und kam nur selten nach Deutschland. Für die Kinder war er der spannendste Mensch, den man sich, außer dem Vater, vorstellen konnte. Er hatte Abenteuer bestanden und war nun ein Mann geworden, der überall, wo er wollte, auftreten konnte, um seine Geige erklingen zu lassen.
Die Kleine erinnerte sich noch genau daran, wenn er beim Spielen den Körper verbog, zurück schnellte, um der Musik buchstäblich nachzulauschen. Sie war fasziniert, was man fühlen konnte, wenn die Töne den Menschen lebendig machen.
Immer, wenn er mal in Deutschland erschien, blieb die Welt stehen und sie trat nur in das Haus der Familie und hielt dort Hof. Dann öffnete der Onkel meist den Geigenkasten, fuhr einige male mit dem Finger über die Saiten und noch ehe er seinen Koffer ausgepackt hatte, umarmte er die Familie mit seiner Geige und spielte gleich los: Anfangs noch Klassik, um sie warm zu stimmen, dann am Ende lagen alle am Boden und lachten, weil er die Geige zwischen seinen Beinen hielt und die letzten strahlenden Töne von sich gab.
Wenn ich könnte, würde ich mit Dir reisen wollen. Es muss wunderbar sein, in Deiner Welt der Musik zu leben,“
freute sie sich. Der Onkel sah sie sehr ernsthaft an und meinte: „Wenn Du einmal Deine Ausbildung abgeschlossen hast und es zeitlich für Dich passt, bist Du herzlich eingeladen, denn was macht uns glücklicher als Musik?“ — „Ich würde gerne auf der Bühne stehen,“meinte sie leise. „Ich würde singen, schauspielern und tanzen. Und hinterher mit Dir einmal durch die Welt ziehen.“ — „Na, dann machen wir doch diesen Plan? Wann kommst Du zur Schauspielschule?“ — „Frühestens mit 16 Jahren!“ — „Na, das ist noch ein bisschen hin. Doch das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.“ Sprachs,setzte seine Geige wieder an, nickte ihr aufmunternd zu, zu singen, während er seine Geige erklingen ließ. Es war ein ganz altes Lied, doch die Kleine hatte es oft gehört und mochte es sehr: „Mutterl, unterm Dach ist ein Nesterl gebaut“. Sie fing an zu singen, ganz ohne Scheu vor dem berühmten Onkel, und der spielte alle Strophen und hörte fast nicht auf. Und als er zu Ende war, sah das Mädchen, dass er weinte. „Habe ich es nicht gut gesungen,“ fragte sie erschrocken,“ich habe es so gut in mir gefühlt.“
Du hast es so schön gesungen, dass es mich zutiefst angerührt hat. Wenn Du so weitermachst, dann bist Du auch für mich eine große Hoffnung.“
Später hatte die Mutter noch mit dem Onkel gesprochen, dass er ihr nicht zu große Hoffnungen machen sollte, weil sie einen steinigen Weg zu gehen hätte, wenn sie arbeiten und Schule zusammen stemmen wollte.
„Das übernehmen wir, meine Liebe,“ rief er und noch ehe sie ein „Aber“ einwenden konnte, war er bei seiner kleinen Nichte, um ihr zu sagen, dass er ihr bestimmt auf diesem Weg helfen würde, denn er hätte auch sehr gerne eine solche Tochter gehabt, und dazu noch eine so begabte. „Aber,“ so sagte er, „Mausi, meine Frau, wollte keine Kinder und nun habe ich Dich. Vertrau mir, ich werd‘ nicht vergessen, da zu sein, wenn Du mich brauchst.“ Und dann verschwand er wie ein Zauberer und ließ sie alleine. Mit einem tiefen Glücksgefühl.
Er brach auf der Bühne zusammen, noch während er eine Ansage machte und starb. Seine Mausi war sehr traurig.
Im Hause der Mutter war es still. Alle entsetzt und stumm. Besonders dieses Mädchen hatte es getroffen und es war voller Kummer. Sie hatte den Onkel getötet. Sie wollte seine Hilfe annehmen wie zuvor schon die ihres Vaters und Patenonkels. Sie alle waren gestorben. Das hatte eine Bedeutung. „Ich kann niemals mehr Schauspielerin werden.Nie mehr Sängerin. Ich habe einen großen Fehler gemacht, weil ich ihre Hilfe annehmen wollte. Warum habe ich es nicht allein versucht? Jetzt ist es zu spät! Wegen mir sind sie gestorben. Das ist ein Zeichen. ich sollte nicht zum Theater gehen.“
12 Jahre später
Da steht eine junge Frau vor den Eltern und empfängt deren Kinder für den Kindergarten. Sie macht einen sehr liebenswerten Eindruck, streicht dem einen oder anderen Kind übers Haar und lächelt alle ermutigend an.
Diese junge Frau ist das kleine Mädchen, dass aus dem Fenster sah und immerzu träumte von Theater und Musik. Ein kleiner Schatten liegt über ihrem Gesicht und ihre Familie weiß, dass sie noch immer einen Kummer hat, den ihr keiner abnehmen kann. Doch sie findet in diesem Beruf die Antwort für sich selbst:
Sie macht Musik — mit den Kindern
Sie tanzt — mit den Kindern
Sie spielt Theater — mit den Kindern
Und macht sie alle glücklich — nicht nur sich selbst
Dankbarkeit ist die Erinnerung des Herzens
