Der Vater blickte grübelnd aus dem Fenster und starrte den grauen Himmel an. Seine Frau lag nun schon so lange im Krankenhaus und würde vermutlich auch nicht mehr zurückkommen. Doch immer wenn er seine Tochter fragte, ob sie mitkommen wolle, die Mutter zu besuchen, schüttelte sie den Kopf, weil sie keine Zeit hatte. Sie musste für die Schule lernen, sie hatte Sport, sie hatte Klavierunterricht, sie hatte… Was war das bloß, was sie wirklich hinderte, ihre Mutter zu besuchen? Ihr Verhältnis zu und miteinander war unbelastet, wie er das sah. Und so blieb er mal wieder völlig ratlos zurück, als seine Tochter auch diesmal sagte, dass sie nicht mitgehen könne.
Sie fragte sich, warum sie dem Vater immer nein sagte, wenn er sie mitnehmen wollte. Denn sie wusste es. Sie hatte Angst. Sie hatte Angst vor dem Krankenhaus, den Krankenhausgerüchen, Angst vor der Stille, Angst vor der Hektik und Angst vor der Gewissheit, dass die Mutter nicht mehr wiederkommen würde. Und diesen Gedanken wich sie aus. Sie wollte es nicht wissen und wenn sie es nicht wusste, würde es auch nicht passieren.
Dann kamen die letzten Tage der Mutter im Krankenhaus. Man konnte nichts mehr für sie tun. Der Vater überlegte, was er seiner Tochter sagen sollte. Er fühlte sich hilflos und sehr allein. Doch endlich, er konnte es nicht länger vor sich herschieben, sagte er seiner Tochter, dass die letzten Wochen für die Mutter angebrochen seien und sie bald sterben würde. Im Krankenhaus könne man ihr nicht weiterhelfen.
Seine Tochter sah ihn plötzlich ganz verzweifelt an. „Kommt sie jetzt wieder nach Hause?“ — „Nein,“ antwortete der Vater. „Das geht nicht.“
Er starrte zu Boden und wusste nicht weiter.
„Ist sie so krank geworden, weil ich sie nie besucht habe?“, fragte sie erschrocken. „Nein,“ antwortete der Vater,“ich glaube, sie versteht Dich sehr gut und weiss besser als ich, warum Du nie mitgekommen bist.“ — „Ich dachte, wenn ich es nicht wahrnehme, dann ist sie auch nicht so krank, dass sie stirbt. Ach Papa, was sollen wir ohne sie machen?“ — „Jetzt müssen wir erst einmal für sie etwas tun. Und ich bin froh, dass wir endlich wieder miteinander über Mama reden können.“
Er wollte wie die Mutter auch selbst, dass sie in ein Hospiz kommt und man hatte auch schon einen Platz für sie gefunden. Den Ort wollte er sich ansehen und er hoffte, dass seine kleine Tochter mitkommen würde.
Willst Du mit mir zusammen in das Hospiz gehen, wo wir Mama hinbringen wollen. Das hat mir das Krankenhaus vorgeschlagen.“
„Ja, ja, Papa, ich will mit Dir den Platz zusammen aussuchen und dann werden wir beide immerzu bei ihr sein. Sie soll nicht mehr alleine sein! Nie wieder!“
Das kleine Hospiz war nur eine Straßenbahnstation entfernt von ihrem Zuhause und der Vater hatte gleich im Sinn, dass dieses Haus das richtige sein würde für seine Frau und die kleine Tochter. Das neue Zuhause seiner Frau war so nahe, dass die Tochter den Weg auch schnell mal nehmen könnte, wenn sie das Bedürfnis danach haben sollte, die Mutter zu sehen.
Es war ein kleines Haus mit 7 Zimmern und als sie die Räume betraten, wurden sie ganz still, so friedlich fühlte sich dieser Frieden an, den sie spürten. Und als ein paar Tage später die Mutter einzog, fand sie alles vor, was immer sie um sich herum geliebt hatte. Das weiche Kissen vom Sofa zu Hause und die kleine Kerze, die ihr die Tochter mal gebastelt hatte. Dazu noch ein paar Fotos und das von ihr gemalte Bild vom letzten Urlaub.
Am ersten Abend kamen Vater und Tochter und die Kleine legte gleich ihren Kopf wie um Verzeihung bittend in die Armbeuge der Mutter. Und während der Vater beide streichelte, spürte die Mutter alle Liebe und lächelte matt und mit geschlossenen Augen.
Bis zum letzten Tag blieb dieses Bild. Alle drei vereint und in viel Liebe eingetaucht.
Das musste dann reichen für das Leben danach.
