Der Schmerz, das eigene Kind zu verlieren

Lange starrte sie in den Garten und wunderte sich, warum das Feuerdorn so braun war, bis ihr einfiel, dass die Sonne zu heiß schien und die Blüten verbrannten.

Warum ist alles meist zu viel oder zu wenig, dachte sie und versank wieder ins Grübeln.

In ihren Händen hielt sie noch immer diesen Brief, der sie so erschüttert hatte, dass sie kaum richtig denken konnte. Ein Brief vom Amtsgericht, wo ihr mitgeteilt wurde, dass ihre Tochter gestorben sei.

Viele Male hatte sie nun schon beim Amtsgericht angerufen, um nachzufragen, was dieser Brief bedeutete. Und immer war das Telefon besetzt oder die falsche Zeit, um anzurufen. Seit Jahren hatte sie keinen Kontakt mehr mit ihrer Tochter gehabt, denn sie waren völlig zerstritten auseinander gegangen und hatten nie wieder voneinander gehört. Und dann plötzlich dieser Brief. Ihre Tochter war gerade mal 35 Jahre alt. Das konnte nicht stimmen.

Sie konnte nicht tot sein.

Doch während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schossen, dachte sie immer wieder: „Hätte ich nicht mal anrufen müssen? Nein, sie war die Jüngere, sie hätte anrufen müssen, um sich zu entschuldigen. Nein, ich hätte es tun müssen als die ältere und reifere.“ Hätte, hätte, hätte…

Endlich erreichte sie das Amt und man konnte ihre Verbindung zu der richtigen Sachbearbeiterin herstellen. Aber es gab nicht viel zu sagen. Es war nur die Mitteilung an sie gegangen, dass die Tochter gestorben war und sie nichts erben würde. Wenn sie mehr wissen wolle, müsse sie versuchen, einige Freunde von ihr ausfindig zu machen oder den Friedhof zu kontaktieren, wo sie begraben wurde.

„Mein Gott“, dachte sie, „wie kann es nur sein, dass ich mein eigenes Kind nicht zu Grabe tragen konnte? War es ein natürlicher Tod? So früh? War sie krank gewesen?“ Und plötzlich überfielen sie tausend Fragen. Keine konnte sie beantworten und das Herz wurde ihr so schwer. All die Jahre hatte sie verdrängt, dass sie Mutter war. Sie lebte ein selbstgerechtes Leben und fühlte sich frei und nicht schuldig. Doch nun wurde sie wie anfangs, als die Tochter verschwand, wieder unruhig und war in großer Angst.

Mit einer Freundin fuhr sie zu dem Ort, den man ihr genannt hatte, um ihr Grab zu finden. Sie ging zum Friedhofsamt und ließ sich das Grab zeigen. Ein kleines Holzkreuz mit einem Pappschild sagte ihr, dass es das richtige Grab sei. Sie hinterfragte, wann und wer sie gefunden habe, als sie tot war oder ob sie im Krankenhaus gestorben sei. Aber es gab nur eine Antwort, dass es Nachbarn waren, die sie in der Wohnung fanden.

Zu denen ging sie und erfuhr auch nicht sehr viel, außer dass tagelang das Licht bei ihr gebrannt habe in der Wohnung und man sie nicht gesehen hatte. Die Nachbarin, die das erzählte, beschrieb sie als freundlich und zurückgezogen. Mehr wusste sie nicht. 

Die Wohnung konnte sie auch nicht mehr anschauen, weil sie neu vermietet wurde und die Spuren verwischt.

Wieder zu Hause war sie wochenlang Gefangene ihrer eigenen Gedanken. Es nützte nichts, wenn sie nachts schweißgebadet aufwachte und versuchte, Lösungen zu finden, um sich aus dieser Enge zu befreien.

Eines Nachts, sie schlief endlich mal wieder gut und hatte einen Traum. Ihre Tochter sprach mit ihr und erzählte viele Geschichten aus ihrem Leben. Die Mutter hörte ihr gebannt zu und spürte ein tiefes Glücksgefühl. Die Tochter beschrieb auch, wie wütend sie über die Selbstgerechtigkeit ihrer Mutter gewesen sei. Nichts anderes wäre möglich gewesen, als aus ihrem Umkreis zu verschwinden, um frei zu werden. „Ich musste gehen“, rief sie viele Male. „Aber daran bin ich auch Schuld, so wie Du, weil ich es Dir nicht sagte. Nur, ich konnte nicht. Mir fehlten damals die Worte. Ich war zu jung und mein Zorn auf Dich war zu groß. Es stimmt, ich habe Dich bestohlen und betrogen. Aber Du hast nicht gefragt, warum ich das tat. Selbstgerecht meintest Du, ich hätte zu nichts ein Recht gehabt, weil ich noch ein Kind sei. Doch ich war schon alt genug, um zu verstehen.“

Die Mutter hörte lange zu und als sie schließlich sprach, merkte sie, dass sie das nun schon im Halbschlaf tat. Aber sie war sich sicher, die Tochter würde das hören. „Ich weiß, dass ich immer recht haben musste und es auch hatte, weil ich älter und reifer war als Du. Aber heute weiß ich, dass das die ganzen Gespräche zwischen uns zerstörte. Kannst Du mir verzeihen?“

Diese Worte kamen das erste Mal über ihre Lippen und als die Tochter antwortete:

Ja, sei gesegnet. Du musst mir versprechen, Dein Herz zu öffnen und das zu zeigen“,

da liefen der Mutter die Tränen über die Wangen. Sie wachte endgültig auf und spürte neues Leben in sich. Sie war sicher, sie hatte mit ihrer Tochter gesprochen und diese hatte sie gesegnet.

Morgen ist ein neuer Tag.