Meine Nachbarin und ich wohnen Tür an Tür. Wenn wir einander sprechen wollen, klingeln wir leise zwei Mal. Wir siezen uns und haben das ein für allemal so festgelegt. Wir wollten das so altmodisch wie früher. Schließlich sind wir auch von früher mit 82 und 83 Jahren. Alles andere wäre für uns beide gewöhnungsbedürftig. Meine Freunde und ich nennen sie die Queen. Sie war mal 156 cm groß. Jetzt ist sie nur noch 148 cm groß, hat einen runden Rücken und wechselt oft täglich mehrmals die Klamotten. Manche, so sagt sie, habe sie mal gekauft, aber bis heute noch nicht getragen, und dabei guckt sie immer ein bisschen schnippisch. Und das scheint auch zu stimmen, denn des Öfteren ist noch ein altes Preisschild an dem einen oder anderen Pullover.
Täglich müssen wir uns wenigstens einmal kontrollieren, damit der andere weiß, dass wir noch nicht gestorben sind. In letzter Zeit haben wir das nicht mehr so oft getan, weil wir festgestellt haben, dass Unkraut doch nicht so schnell vergeht. Aber unser Gedächtnis streikt. Wenn wir uns noch am Abend vorher informiert haben,dass wir am nächsten Tag zur Lymphdrainage gehen müssen oder der Arzt mal wieder dran ist, so haben wir das in der letzten Zeit am nächsten Morgen vergessen. Doch wir sagen uns dann, wer wird da so pingelig sein. Hauptsache wir leben noch!
Sie häkelt oft den ganzen Tag und am Abend jault sie, weil ihre Arthrose lädierten Hände sie stöhnen lassen. Meist mache ich ihr den Vorschlag, die Hände am Abend mit einer Arthrose Creme einzureiben. Manchmal sage ich ihr auch, es würde ihr helfen, wenn sie weniger häkeln würde. Das gefällt ihr nicht, denn das weiß sie selber. Ein anderes Mal biete ich ihr an, den Hammer zu nehmen, um den letzten noch heilen Finger lieber platt zu schlagen als auch noch krumm zu werden. Dagegen hat sie komischerweise etwas.
Kaum zu verstehen. Oder?
Jeden 2. Dienstag geht sie zum Friseur, denn im Gegensatz zu mir hat sie noch genug Haare, um sich eine große Dauerwelle machen zu lassen. Mein Funselhaar dagegen nimmt noch nicht mal eine Dauerwelle an. Doch jeder darf davon ausgehen, dass auch ich noch gerne so eine Haarpracht hätte, die aus viel Dauerwelle, viel Luft und Haar besteht.
Seit einiger Zeit hat sie einen Stock und den braucht sie auch beim Gehen, denn einmal ist sie hingefallen, direkt auf ihr Gesicht und war für ein paar Wochen grün und gelb im selbigen. Aber das hat sie mit Würde getragen, eher mit Stolz gezeigt, dass sie auch hart im Nehmen ist.
Des Öfteren musste ich auch schon mal den Notarzt holen, der ihr meist bescheinigte, dass sie sehr gesund sei. Oder er sprach vom Gegenteil und im Krankenhaus konnte man später einfach nichts finden. Oder es stellte sich heraus, dass sie einen Schlaganfall hatte. Nur war der nicht mehr nachweisbar und sie darum plötzlich wieder gesund.
Im Krankenhaus jedenfalls hatte sie x-Untersuchungen, doch keiner hat wirklich etwas gefunden. Trotzdem schrieben die Ärzte lange Krankheitsberichte, denn schließlich ist die Queen Privatpatientin.
Ich habe oft gesehen, dass Blutdruck und Puls bei ihr die verrücktesten Werte hatten. Damit war man eigentlich tot. Aber sie war es nicht.
Und die Ärzte verstanden es nicht.
Das ganze geschah sogar oft vor den Augen der Ärzte: Sie brach in Schweiß aus und kollabierte.Und die langen nichts sagenden Berichte der Ärzte folgten mal wieder.
Jetzt kriege ich mit, dass sie vielleicht nicht mehr so lange hier im Hause meine Nachbarin und Queen sein möchte und vielleicht ins Altersheim gehen will. Das finde ich ziemlich rücksichtslos, denn wer soll mich dann weiter so gut unterhalten wie sie.