Die verlorene Tochter

Edith saß draußen vorm Haus auf der Bank und ließ langsam den Brief aus ihren Händen gleiten. Der Brief kam von ihrer Tochter, mit der sie schon seit langem keinen Kontakt mehr hatte. Ihre Elisa, die schon immer ein Papakind gewesen war, hatte sich ganz aus ihrem Leben zurückgezogen, als der Vater starb. Und sie, die Mutter, konnte keine Beziehung mehr zu ihr aufbauen.

„Mama, ich brauche Dich! Kannst Du kommen?“ hatte sie jetzt geschrieben. Mehr nicht. Und natürlich würde sie sofort helfen wollen, was immer auch los sein würde. Nochmal eine Chance zu haben, ihrer Tochter nahe sein zu können würde sie sicher nicht bekommen.

Sie spürte, dass sie wieder lebendiger wurde, ihr Herz klopfte und sie fühlte unendliche Freude. Ihre Tochter war nun 30 Jahre und sie versuchte sich vorzustellen wie sie sich wohl verändert habe. Als sie die Mutter verließ,war sie zwanzig Jahre alt.

Edith holte alte Fotos aus dem Sammelkasten, durchsuchte sie nach Erinnerungen und fand wirklich fast nur Fotos mit dem Papa oder sie war allein abgebildet.

„Tja, kleine Mädchen lieben die Mütter, fühlen sich aber oft von ihren Vätern angenommen ohne wenn und aber und einfach vergöttert ohne erzogen worden zu sein. Aber was macht das schon,“ dachte sie weiter.

Jetzt braucht sie mich. Und ich bin froh.“

Sie packte ihren Koffer, nahm Fotoalben und auch die Fotokiste mit den losen Blättern mit, rief ein Taxi, welches sie zum Flughafen brachte, um nach München zu fliegen. 

„Eigentlich war ich ihr immer nah.“ — Aber Elisas Abschied, der eigentlich nie einer war, sondern eine Trennung für immer, ließ sie zögern ihr jemals noch einmal zu begegnen.

„Ich will Dich nicht mehr und ich brauche dich erst recht nicht mehr,“ hatte sie gerufen, die gepackten Koffer in die Hand genommen und war verschwunden. Keine Frage beantwortet, warum sie gehen wollte, und die Tür hinter sich zugeschlagen.

Für immer.

Und jetzt dieses „Mama, ich brauche Dich! Kannst Du kommen?“ — In München angekommen, stieg sie in ein Taxi, um zu der Adresse zu fahren, die ihre Tochter aufgeschrieben hatte. Edith kannte München nicht, aber alles, was sie sah, gefiel ihr.

Sie stieg aus und stand vor einem großen Gebäudekomplex. Es war ein Krankenhaus. Es war die richtige Straße und die richtige Hausnummer, aber ihre Tochter hatte vergessen zu schreiben, dass es ein Krankenhaus war. Oder fürchtete sie sich es zu schreiben? Und warum sollte sie hierher kommen? Wollte sie nicht erst wieder zu Hause sein? War sie Krankenschwester geworden oder gar Ärztin? Sie wusste nichts von ihr außer, dass sie nun kommen sollte.

An der Rezeption fragte sie nach ihrer Tochter und man schickte sie in den Seitentrakt des Hauses auf eine Privatstation. Hier wieder die Frage nach ihrer Tochter. Die Krankenschwester führte sie zu einem Einzelzimmer, klopfte an und betrat mit ihr den Raum.

Ihre Tochter lag im Bett und schlief.

„Hallo, Elisa“, rief die Mutter leise. Elisa drehte sich um und über ihr Gesicht fiel ein Strahlen. „Mama,“ schluchzte sie, „Du bist gekommen?“

„Kind, was ist mit Dir,“ weinte nun auch Edith. Aber lange konnten beide nichts sagen und hielten sich fest umschlungen. Dann endlich nach ewiger Zeit murmelte Elisa: „Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs und will mich nicht operieren lassen. Das ist sterben auf Raten.“

„Ich habe Dich endlich wieder und soll Dich gleich wieder verlieren? Mein Herz, das kann ich nicht!“ — „Mama,ich habe Dich so verletzt als ich ging. Lass uns die Zeit jetzt mit Liebe verbringen!“

Wieder umarmten sie sich und schwiegen eine lange Zeit. Dann endlich flüsterte die Tochter: „Ich gab Dir damals die Schuld an Papas Tod, weil Du nicht schnell genug den Notarzt gerufen hast. Heute weiß ich, dass seine Zeit um war, denn sein Herz hatte schon aufgehört zu schlagen und der Arzt hätte zu lange gebraucht, ehe er bei uns angekommen wäre. Papa hätte man nur noch gequält. Und jetzt will auch ich nicht gequält werden. Ich möchte sterben ohne Hindernisse. Wie Papa. Du hast es damals richtig gemacht. Nun lege ich mein Leben in Deine Hand. Sprich mit den Ärzten und lass uns zusammen noch eine gute Zeit haben. Bitte Mama!“ — Erschöpft legte sie sich zurück, während ihr die Mutter übers Haar strich und mit unterdrückter Stimme sagte: „Ich werde jetzt den Arzt aufsuchen, ich komme bald zurück.“

Sie ging hinaus und wurde heftig von einem Weinkrampf geschüttelt. Da stand ein junger Arzt von ihr und fragte: „Sind Sie die Mutter von Elisa?“ — Edith blickte hoch und sah in die Augen eines jungen Mannes.

Ja, das bin ich!“

Dann war da eine große Stille  zwischen den Beiden.

Endlich sprach der Arzt: „Hat Elisa Ihnen gesagt, dass sie sterben wird?“

„Ja!“, antwortete sie leise. „Sie will keine künstliche Verlängerung. Sie möchte sterben ohne Eingriffe jeglicher Art. Und es ist dazu auch zu spät.“ — Damit  hatte er fast alles gesagt. 

Aber nach einer weiteren Pause kamen seine Worte fast gepresst aus ihm hervor: „Sie war und ist meine Freundin. Wir sind ein Paar. Die Krankheit hat alles verändert.  Ich habe sie gefragt, was ich noch für sie tun könne, damit wir zusammen noch eine Weile glücklich sein können. Da hat sie gesagt, dass sie keine Verlängerung wünsche, dass sie ihre Mutter sehen möchte und mich einfach lieben darf bis sie stirbt. Und das möchte ich tun! Ich bin froh, dass Sie da sind.“

Sie sagten beide lange nichts und bemerkten auch nicht, wie sie sich bei den Händen hielten. „Komm,“ sagte sie dann ganz selbstverständlich, „lass uns hineingehen, damit wir es ihr sagen.“

Loslassen — das ist Liebe!

Alles wird gut.