Die Vollendung der Erinnerung

Heinrich Schleiden setzte seine Baskenmütze auf, nahm Staffelei und Farbkasten in die Hand, zusammen mit ein paar Malpappen, um im Freien zu arbeiten. „Na, Henri S.,“ begrüßte ihn sein Nachbar und reichte ihm unaufgefordert einen Pott Kaffee. Henri stellte seine Utensilien kurz auf die Seite, schlürfte den Kaffee und dankte ihm wie immer, weil es der beste war, den er kannte. Allein der Duft machte ihn schon immer ganz freudig erregt, weil das stets der Beginn eines Tages war, der ihm gefiel.

Das Wetter war gut und so beschloss er in den Biergarten zu gehen, wo er immer einen Platz bekam, weil man ihn kannte und schätzte. Henri S. Den Namen mochte er sehr, besonders weil die Freunde angefangen hatten ihn so zu nennen. Er empfand das als Auszeichnung.

Er baute seine Staffelei auf, holte Farben, Pinsel, Palette und Malpappen raus und begann mit den ersten Skizzen. Mitten hinein in seine Suche fiel sein Blick auf ein junges Mädchen, das sich scheinbar sehr ernst mit einer anderen Person unterhielt, die er nur von hinten sehen konnte.

Sie war sehr hübsch. Aber das eigentlich besondere war, wie das Licht auf sie fiel. Sie saß unter der großen Buche, deren Blätter sich sanft bewegten und dabei immer wieder neue Lichter auf das Gesicht der jungen Frau warfen. Er nahm eine andere Malpappe, um sogleich zu beginnen, dieses Farben- und Lichterspiel in Gesicht und Haare zu bringen.

Und für lange Momente spürte er endlich wieder große Freude und Neugier ein Maler zu sein. 

Als er die Skizze beendet hatte, atmete er tief durch und stellte die Malpappe auf die Seite, ohne das Bild  nochmal anzusehen. Dann schloss er die Augen und beruhigte sich langsam wieder.

Wie lange war es her, dass er versuchte mal wieder ein Bild zu malen, das stärker impressionistische denn expressionistische Linien und Farbkleckse hatte. Unbekümmert und begeistert wie einst.

Endlich holte er die Skizze wieder aus der Ecke hervor, um sie noch einmal anzuschauen. Er war entsetzt wie wenig er die Schönheit des Mädchens getroffen hatte. Darauf hatte er gar nicht geachtet, während das Farbspiel ihn fesselte Er stellte enttäuscht das Bildnis wieder auf die Seite.

Da stand die junge Frau, die er gemalt hatte, vor ihm und fragte:

Sie haben doch mich gemalt. Oder?“

Er antwortete: „Es war nur ein Versuch!“ – „Darf ich das mal sehen?“ – „Lieber nicht!“ – „Ach, bitte!“ Wortlos stellte er das Bild auf den Tisch und lehnte es gegen eine Vase, die dort stand. „Danke,“ sagte sie leise und schaute sich das Bild lange an. Dann fragte sie: „Kann ich die Skizze kaufen, wenn sie nicht zu teuer ist?“ Überrascht blickte er sie an. Er sah nur Rührung und viel Gefühl im Gesicht der jungen Frau. Keine Ironie oder sonst eine negative Spur. „Ja,“ sagte er langsam , „ich schenke Ihnen die Skizze! Nur müssen Sie mir verraten, wenn Sie können, warum Sie die haben wollen.“ – „Ich habe lange geschaut, ob es irgendetwas gibt, was mich an diesem Bild stört. Da ist aber nichts außer der Wahrheit. Ich habe mich heute von meinem Freund getrennt. Ich kann sehen, wie schwer mir das gefallen ist. Ich bin froh, dass es nicht leichtherzig war. Wenn ich selber versucht hätte ein Portrait von mir zu malen, in der ich alle Trauer hineingelegt hätte, weil ich mich von meinem Freund trennte, es wäre nicht echt gewesen. Aber Ihr Bild zeigt mir mein Gefühl wirklich. Danke dafür!“ – „Aber Sie sind eigentlich in Wirklichkeit sehr viel hübscher. Stört Sie das nicht ein bisschen?“ – „Nein,“ antwortete sie, „das ist nicht wichtig. Ich bin Malerin und diese Skizze von Ihnen ist meine Wahrheit.“

Sie umarmte ihn ganz schnell, nahm das Bild und ging, während Henri S. ihr noch lange verstört und überrascht nachsah.

Eine Malerin…

Vier Monate später war sie tot. Krebs.

Ihr Freund hielt das Bild in den Händen und las ihren Brief dazu. „Er sollte sie in Erinnerung behalten wie Henri S. sie gemalt hatte.“

Das Bild war die Vollendung der Erinnerung.