Der Himmel war tiefblau und nur am Horizont drängten sich ein paar dick aufgeblähte Wolken, die träge weiterzogen, weil der Wind sanft und sie selber so schwerfällig waren. Immer wenn Greta hier am Berg war, der Himmel diese Bläue zeigte, die Wolken sich so wichtig machten, war dieses Lied mit den weißen Wolken in ihrem Sinn. Und die Erinnerung an ihre schönste und traurigste Liebesgeschichte.
Sie tanzten nur einen Sommer. Doch dieser Sommer hatte alles, was den Zauber der Jugend und Unschuld ausmachte.
Sie breitete die Decke aus, legte sich in die halbe Sonne und dachte zurück an jene Zeit. Jetzt war sie 80 Jahre alt und die so intensive Zeit der ersten Liebe war über 60 Jahre her. Doch noch immer war da ein Schmerz, den sie verspürte, weil sie sich mit ihm ein einziges und gleichzeitig letztes Mal gestritten hatte. Sie wusste noch nicht mal mehr, worum es ging.
Das hatte sie einfach vergessen.
Sie war nach dem Streit weggelaufen und zurück ins Dorf gegangen. Hans würde, so dachte sie, am nächsten Tag auch wieder runterkommen. Dann wollte sie sich wieder mit ihm versöhnen. Doch er kam nicht mehr und, wie man Greta später erzählte, rutschte er dort aus, wo sie jetzt lag, um anschließend ohne Halt zu sein und den Hang hinunter zu fallen. Keiner hatte sich viel dabei gedacht, aber seine Freunde krakselten den Hang runter, um ihm zu helfen.
Da lag er und man konnte ihm nicht mehr helfen, so erzählte man mir, denn er war so gestürzt, wie man nicht stürzen darf und so verstarb er noch dort an jener Stelle unterhalb des Hügels.
Viele Jahre kletterte sie am Todestag hinauf zu diesem Hügel, um zu trauern und seiner zu gedenken, wie es auch viele seiner Freunde taten.
Doch von Jahr zu Jahr wurden es immer weniger und seit sie München verließ, war sie seit 40 Jahren nicht mehr dort gewesen. Nun drängte sie irgendwas, nochmal zu diesem Hügel zu klettern. Später würden das ihre Beine nicht mehr schaffen und so kam es, dass sie auf dieser Wiese lag und ein kleiner 10jähriger Bub zu ihr kam und fragte, ob sie müde sei. Dabei bemerkte sie erst jetzt so richtig, wie sehr sie diesen Dialekt vermisst hatte.
„Nein,“ antwortete sie leise, „Ich träume ein bisschen und freue mich, wie schön es hier ist.“ — „Du kannscht aber auch mit der Seilbahn aufi fahrn, dann sigst noch mehr.“ — „Ja, „gab sie dann zurück,“ das könnte ich. Aber ich möchte sehr gerne hier sein. Hier ist es so friedlich und weiter rauf will ich weder mit der Bahn noch zu Fuß. Früher gab´s hier noch keine Bahn. Wir mussten immer noch zu Fuß rauf auf die Spitze.“ — „Aber die Bahn gibts scho lang, länger als i leb!“ — „Das glaube ich,“ sagte sie wiederum, „ich bin ja seit 40 Jahren nicht mehr hier gewesen.“
Dann hörte der Junge die Stimme eines älteren Herrn, der um die Ecke kam.
„He Xaverl, Du bist immer fui zu schnell für mi.“ Dabei nahm er seinen Jägerhut ab und grüßte Greta. „Na, hat mei Enkel eana guat Gsellschaft gleistet oder hot er eana gstört?“ — „Nein, es war nett mit ihm und er hat mir erzählt, dass es hier schon lange eine Seilbahn gibt, mit der ich bis auf die Spitze fahren könnte. Aber ich habe gesagt, dass ich nur bis zu dieser Stelle gehen wollte. Schön ist es hier“ — „Kennen’s diese Gegend?“ — „Ja, hier habe ich vor 60 Jahren gelebt und war sehr glücklich. Und nun wollte ich noch einmal herkommen, um den Rasen hier zu riechen, die Stille genießen und mich den Träumen ein bisschen hingeben.“ — „Vor sechzig Jahren,“ fragte er zurück. „Vor 60 Jahren hams hier glebt ? Und kennen’s die Geschichte, die damals hier passierte?“ — „Ja,“ meinte sie leise, „die Geschichte kenne ich noch.“ — „Meine Freind und i waren dabei, mir wollten Hans auffi helfen, weil mer dachten, das es nur a kloane Blessur bei eam geben hätt und da wars fast vorbei mit eam. Es war so komisch, er hot noch oa bisserl gsunge, was mir damals so gsunge ham und dann wars vorbei!“. Mit ihrer leicht brüchigen Stimme schlug sie die ersten Töne an und sang dann einige Worte, ehe sie wieder still war. „Ich schau den weißen Wolken nach…!“ — „A, geh, warst Du sei Freindin?“, fragte er überrascht und dann weinten sie alle beide um die Zeit und um Hans.
Sie fühlte sich so getröstet, weil der Großvater erzählt hatte, dass Hans nochmal das gemeinsame Lied begonnen hatte und dachte:
Wenn er dieses Lied noch auf den Lippen hatte, dann muss er glücklich gewesen sein.“
Später packte sie ihre Sachen und die Decke wieder ein, um zum Bahnhof zu gehen.
Großvater und sein Xaverl begleiteten sie anschließend noch bis zu ihrer Bahn. Sie stieg ein, die beiden sagten: „Pfüa God,“ und die Bahn ruckte an und blieb nochmal stehen.
Sie setzte sich auf die Holzbank in dem alten Vorortzug und schaute auf ihre faltigen Hände. Nie wieder hatte sie sich seit damals von einem Menschen im Streit getrennt.
Und ich geh mit der Hoffnung, dass er in Frieden gestorben ist.“
Mit einem letzten Blick schaute sie auf den Großvater und Xaverl, die abwartend vor dem Fenster standen. Liebevoll sah sie noch runter auf die beiden, der Zug fuhr langsam an und der Großvater sang: „Ich schau den weißen Wolken nach,“ dann brach er ab und der Zug nahm mehr Geschwindigkeit auf.
Sie winkte ein letztes Mal, schaute dann entspannt zum blau-weißen Himmel, entdeckte eine Wolke, die aussah wie ein Herz und dachte glücklich:
Das Leben ist schön, man muss nur den Mut haben, es so anzunehmen. Und das dauert manchmal ein bisschen länger.“
