Familientreffen mit bitterem Nachgeschmack

Luithilde, die bayerische Kusine von Veronika, wartete schon beim Friseur auf sie, denn erstens hatten sie sich schon so lange nicht mehr gesehen und zweitens war der Friseur wieder freigegeben, so dass sie sich dort endlich mal wieder treffen konnten.

Diese blöde Pandemie! Keiner konnte mehr mit dem anderen richtig umgehen. Man traute sich nicht, Familie und Freunde wie früher zu umarmen und vor allem hatte man auch nie richtig im Kopf was gerade erlaubt und nicht erlaubt war.

Da rauschte Veronika ins Haus, begrüßte, leicht die Hand erhebend, die Belegschaft des Friseurs, um sich dann suchend nach Luithilde umzusehen. Diese hatte sie natürlich gleich erkannt, denn Veronika musste immer ein bisschen theatralisch sein. Das lag ihr im Blut.

„Luithilde, ach was, wie immer Tilly, wie geht es Dir? Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Nicht nur die Pandemie war daran schuld, es war auch die Zeit, die wir damals nicht hatten!“ Dabei vergaß sie, dass sie jede Einladung ihrer Kusine ausgeschlagen hatte. Warum auch immer.

Bevor Luithilde antworten konnte, sprach sie weiter und ihr Ton wurde sehr fürsorglich:

„Du siehst ja gar nicht so gut aus! Fehlt Dir irgendetwas oder bist Du nur müde?“ – „Nein, mir geht es ganz gut. Nur die Fahrt hierher war etwas stressig, weil die Straßen so voll waren. Wie geht es Dir? Es scheint sehr gut!“– „Ach wunderbar. Wir sind ja mit unseren 80 Jahren noch sehr fit. Aber, man muss auch ein bisschen dafür tun!” Bevor das Gespräch weiter ging, saßen sie schon in ihren Sesseln und man wusch ihnen die Haare. „Dumm,“ brüllte Veronika, „dass man sich so anschreien muss mit der Maske und den Abständen.“

„Das macht doch nichts, Vroni, wir haben ja nachher noch immer Zeit zum Reden.“ Tilly schloss die Augen, während sie hörte, wie die Friseurin mit Vroni sprach. Auch anschließend unter der Trockenhaube klappte das Gespräch zwischen den beiden nicht besonders gut, weil Vroni so schlecht hörte. Beim gemeinsamen Mittagessen bei ihr war es wie immer. Vroni erzählte und Tilly musste nur reagieren.

Was hast Du die ganze Zeit während des totalen Lockdowns so gemacht? Ich habe endlich mal wieder meine ganze Familie gesprochen. Das war das erste, was ich arrangierte, regelmäßige Anrufe! Das gehört sich ja bei einer Mutter, die 80 ist und möglicherweise  des öfteren Hilfe braucht. Die Kinder haben mir das Essen vor die Türe gestellt und „Hallo“ gesagt. Dann konnten sie wieder gehen. Das war sehr angenehm. Wie hast Du das gemacht?“ – „Ach,” meinte Tilly, „die Kinder hatten doch so viel mit sich selbst zu tun. Und ich bin ja noch gut zu Fuß und ein Auto habe ich auch noch, um schwerere Sachen zu transportieren. Allein das ewige Homeoffice, dann wieder nicht mehr, dann im Wechsel. Das ist doch schrecklich, was Eltern und  Kinder immer zu organisieren hatten. Und ich bin stolz, sie haben das gut gemacht bisher. Schließlich ist das ganze ja wie in einer Diktatur. Und wenn Du nicht gehorchst, wirst Du bestraft.” 

Nein, ich finde, die Kinder sollten uns jetzt ein bisschen zurückgeben, was wir für sie getan haben!“

gab Vroni zurück: „Übrigens wäre es mir lieber Du würdest mich Veronika nennen, das klingt ein bisschen respektvoller.“ – „Ja, wie Du willst. Ich dachte, Du wolltest unsere Jugend oder Vergangenheit wieder ein bisschen zurückholen, wo Du noch Vroni für uns warst. Wir haben doch so viel miteinander erlebt an schönen und lustigen Abenteuern.“ – „Richtig, aber wir erwerben uns während unseres Lebens doch so einige Anerkennung. Und das drückt sich auch in unserer Anrede aus. Ich habe übrigens viel in dieser Zeit für meine Schönheit getan. Täglich eine Maske, Fuß und Fingernägel gepflegt, Falten nieder gemacht und mir beim Zahnarzt, der glücklicherweise offen hatte, zwei Implantate setzen lassen. Und die anderen Ärzte habe ich auch besucht. Schließlich musste ja alles wieder auf Vordermann gebracht werden. Und jetzt bin ich, bis auf so ein paar Kleinigkeiten, ganz zufrieden mit mir. Du solltest auch was für Dich tun. Schließlich ist das jetzt mal eine gute Zeit an Dich zu denken.“ – „Ich denke auch an mich. Und zum Arzt bin ich auch gegangen. Aber ich habe…“

„Du hast die Zeit nicht genutzt. Schau Dein Gesicht an, Deine Figur. Alles ein bisschen aus der Fasson geraten, Deine Nägel sind kurz, Deine Haare schrecklich, Du hast die Zeit, die für uns nie wiederkommen wird, wirklich nicht genutzt. Zu dumm!”

Tilly schwieg. Was sollte sie sagen? Sich verteidigen? Nein!

Nach dem Mittagessen, welches Veronika übriges kommen ließ, tranken sie noch einen Kaffee, verabschieden sich voneinander und Tilly wusste, dass sie keine Lust mehr hatte, Veronika jemals wieder zu sehen.

Was hatte sie von der Pandemie gelernt? Wie nah ihr andere Menschen gekommen waren, die zusammen mit ihr sich solidarisch hielten, gegenseitig sehr viel geholfen hatten, ihre Kinder ihre Kinder geblieben waren und keine Sklaven oder Wesen, die jetzt an die Eltern zurückzahlen sollten, sondern freie Menschen soweit die Pandemie das zugelassen hatte. 

Und außerdem wusste Tilly eines, allerdings nicht genau wann:

Lass Dich nicht von Angst regieren, denn

Alles wird gut!