Sie stemmte sich mit dem ganzen Körper gegen den heftigen Wind, um im nächsten Augenblick wieder zu torkeln, weil der Wind sich ständig drehte. „Noch nicht mal auf diesen Wind kann man sich in diesen Zeiten verlassen,“ so dachte sie und kämpfte sich weiter durch dieses gefährliche Wetter. Noch waren es kleine Äste, die überall rumflogen, doch hin und wieder knackte es hier und da schon gefährlich in den Baumkronen. Gleich würde sie die Straße überqueren und mehr zwischen die Häuserreihen kommen. Vielleicht würde es dann besser. Aber da gab es auch Gefahr von Dachziegeln, die einem um die Ohren fliegen oder gar treffen konnten.
Vor ihr torkelte ein Mann, der offensichtlich das gleiche Problem wie sie hatte. Er kam nur weiter, wenn der Wind sich in die richtige Richtung bewegte. Sein Mantel schlabberte an seinem Körper und es sah so aus, als habe er die Knöpfe nicht richtig geschlossen. Da plötzlich fiel ihm etwas aus der Manteltasche und sie wollte ihm das mitteilen. Doch der Wind stand nun in ihre Richtung und die Worte konnten ihn nicht erreichen. Sie kämpfte sich zu der Stelle, wo die kleine Tasche hingefallen war. Aber da lag sie schon nicht mehr. Der Orkan tobte und die Tasche verschwand unter restlichen Winterblättern, Schlamm und Nieselregen. Sie griff in den Schlamm und suchte zwischen all dem Durcheinander und fand schließlich die kleine Tasche, holte sie raus und wischte sie ein bisschen an ihrer Jacke ab, um dann dem Mann Bescheid zu geben, dass er etwas verloren habe. Doch sie sah ihn nicht mehr. Er war verschwunden. „Na,“ so dachte sie, „ich werde die Tasche bei der Polizei abgeben.“ Doch den Gedanken verschob sie schnell, weil sie wusste, ihr Zuhause würde jetzt näher sein als die Polizei.
Die letzten Schritte und sie drückte die Haustüre auf, um ins Haus zu gelangen. Die Türe widerstand einen kleinen Moment, dann schaffte sie es und trat ins Haus. Sie fühlte sich wie nach einem Kampf und so sah sie auch aus. Sie ließ den Mantel an sich runtergleiten und fiel in den nächsten Sessel.
Was für ein Wetter, was für eine Zeit.“
dachte sie und dann griff sie nach der kleinen Tasche. „Was war darin? Hatte es sich gelohnt die aufzuheben?“ Egal, sie hatte es nun getan und bevor sie sich waschen wollte, musste sie dieses Rätsel lösen. Sie öffneten den Beutel, es war ein Portemonnaie mit viel Geld. Sie schloss den Geldbeutel schnell wieder, wusch ihn ab und legte ihn zum Trocknen auf die Heizung. Dann nahm sie ein Bad und dankte dem lieben Gott, dass sie ein Zuhause hatte und ein so gemütliches dazu, mit Badewanne und warmem Wasser.
Eigentlich wollte sie am nächsten Morgen zur Polizei gehen, weil es sie drückte, so viel Geld im Haus zu haben, was einem anderen sicherlich nun fehlte. Aber der Himmel war so grau wie am vorherigen Tag und es regnete, graupelte und windete wie tags zuvor. Nein, nochmal wollte sie nicht so einen Tag hinter sich bringen. Sie war zwar noch jung mit ihren 28 Jahren, aber nicht so versessen den Wind zu bekämpfen. Sie machte darum wieder Homeoffice wie so oft in diesen Pandemie Zeiten.
Am nächsten Morgen ging sie endlich zur Polizei. Der Himmel hatte ein bisschen Blau gezeigt und die Wolken flohen auch nicht mehr wie die Tage zuvor, sondern ließen sich nun endlich wieder mehr Zeit, um am Himmel zu wandern. Oft blähten sie sich auf wie Angeber nach einem Sieg, aber sehr schnell kam ein Wind, der sie wieder zerriss ohne Respekt vor ihrer Größe.
Sie bog um die Ecke und stand dann vor der Polizeiwache.
Ein tiefer Seufzer und sie betrat den Amtsraum. Ein freundlicher Polizist fragte, was er für sie tun könne. Sie zeigte ihm das Portemonnaie und erzählte, dass sie es schon zwei Tage zuvor gefunden habe, doch zu feige gewesen sei, weil das Wetter so grausam gewesen sei, so dass sie Homeoffice gemacht habe.
Er nickte verständnisvoll und fragte, ob sie den Mann erkannt habe, der den Geldbeutel verloren hätte. „Nein,“ meinte sie und fügte hinzu, dass sie nur hoffen würde, dass er nicht böse über ihre verspätete Meldung sei.
Dann schrieb der Beamte ihre Adresse auf und natürlich ihren Namen, lobte sie, auch wenn sie so spät gekommen sei, dass sie den Geldbeutel aus dem Schlamm gezogen habe. Außerdem, da kein Name auf oder in dem Beutel gestanden habe, könne es sein, dass sie möglicherweise nochmal von der Polizei hören würde, weil sie das Geld haben dürfte, allerdings erst nach längerer Zeit, sprich 6 Monaten. Sie ging zufrieden ihrer Wege und freute sich, dass sie ihr Gewissen befreit hatte und das Geld los war.
Längstens arbeitete sie wieder im Büro, wo ihr Chef schon auf sie wartete, um einige Fälle durchzugehen, die eine Anwaltskanzlei auf dem Tisch liegen hat. Sie liebte ihren Job, denn sie wurde sehr oft mit einbezogen, wenn bei einigen Fällen der Menschenverstand allein schon gefragt war und kein Paragraph nötig war.
Eines Tages meldete sich bei ihr die Polizei, weil ein Mann sich gemeldet hatte, dem das Portemonnaie scheinbar gehörte.
Er möchte Ihnen einen Finderlohn geben und Sie gerne kennen lernen, denn nicht jeden Tag kommt einer, der so viel Geld findet und es zu Wache oder Fundbüro bringt.“
Also verabredeten sie sich und trafen sich beide bei der Polizei. „Hallo,“ sagte sie. „Woher wussten Sie, dass dies Ihr Geld ist?“ Und bevor der Polizist antworten konnte, lachte der junge Mann nur und meinte: „Ich konnte genau sagen, wie viel unterschiedliche Geldscheine ich hatte und wie sie angeordnet waren. Und da Sie die nicht angefasst hatten, blieb mir das Glück, dass die Polizei mir das glaubte. Außerdem hat man meine Fingerabdrücke überprüft.“ Ganz sprachlos sah sie ihn an und fragte dann nach dem Finderlohn, den sie eigentlich nicht wollte. Doch um die Sprachlosigkeit zu überbrücken hatte sie gefragt und der junge Mann gab zur Antwort: „Immer, wenn ich aus dem Fenster sehe, schau ich auf Ihren Schreibtisch. Ich habe mich schon manches mal gefragt, warum Sie beim scheinbaren Nachdenken immer versuchen ein paar Ihrer schönen Haare auszureißen.“ – „Wo können Sie mich sehen?“ Und dann fiel ihr ein, dass die beiden Hochhäuser so nahe und über Eck standen, dass man von Etage zu Etage hineinschauen konnte ins andere Haus. Und auch, warum ihr der junge Mann so vertraut vorkam. „Kommen Sie und lassen Sie uns zusammen einen Kaffee trinken, während ich Ihnen erzähle wie viel Finderlohn ich Ihnen freiwillig gebe. Und Sie erzählen mir, warum Sie so oft die Haare raufen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte: „Ich heisse Hans“, während sie fast total erleichtert antwortete: „Und mein Name ist Sandra!“” Dann gingen sie einträchtig miteinander aus der Wache. Auf der Treppe fasste er nach ihrer Hand und die behielt er dann in der seinen.
Und ihr schien es zu gefallen.
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