Sie war 17 Jahre alt und hatte ihr erstes Gedicht geschrieben. Sie las es ihrer Mutter vor. Die sagte: “Ach, zu der Zeit habe ich auch Gedichte geschrieben.” Mehr nicht.
Von Zeit zu Zeit kramte sie das Gedicht wieder heraus und fand es schön. Sie las es ihrem Vater vor. Der meinte: “Aller Anfang ist schwer.” Sie räumte ihr Geschriebenes weg.
Zehn Jahre später fiel ihr das Gedicht erneut in die Hände. Sie gab ihrem Mann eine Kostprobe. Er strich ihr lächelnd über das Haar:
Du bist schon eine Süsse.” Das wars.
Lange hatte sie nicht mehr an das Gedicht gedacht. Aber als ihre Tochter vielleicht 10 Jahre alt war, erinnerte sie sich mal wieder und holte das Gedicht hervor. “Mama, was liest du da?” fragte sie. “Ach, nur ein kleines Gedicht.” – “ Habt ihr so etwas Altmodisches noch gelesen?” – “Ja, und auch noch selber geschrieben.” – „Langweilig, wie uncool!”
Sie legte das Gedicht wieder weg und dachte, sie müsse schon sehr verschroben sein, denn es gefiel ihr noch immer. Es vergingen Jahre.
Sie war eines Tages mal wieder dabei, ihren kleinen Kasten für Besonderes zu durchforsten. Da lagen alte Briefe drin, kleine vertrocknete Rosen, ein besticktes Taschentuch, einige hübschen Dinge, die ihre Kinder gebastelt hatten und das Gedicht. Wie immer nahm sie es wieder raus und las es erneut.
Sie erinnerte sich noch genau daran, als sie es schrieb.
Nichts war romantisch oder besonders. Sie fuhr mit Papa und Mama im Auto und es regnete. Die Tropfen klatschten gegen die Schreiben und leuchteten für kleine Momente und nach einer Weile hörte der Regen auf. Sie fuhren auf der Autobahn durch die Rhön und der Nebel stieg auf. Langsam klärte sich der Himmel und alles weitere empfand sie so gut in ihrem Gedicht beschrieben, dass sie tief seufzte. „Ich bin wohl aus der Zeit gefallen,” dachte sie und packte den ganzen Kasten wieder weg.
An irgendeinem anderen Tag sah sie in einer Illustrierten ein Foto, ein Foto, das aussah, als habe sie dafür das Gedicht geschrieben. Sie schnitt es aus und besah es sich. Das eine oder andere am Rand des Fotos nahm sie weg, weil es nicht passte. Aber dann stimmte alles. Sie klebte dieses Bild nun säuberlich auf ein Papier und dann setzte sie sich hin und schrieb den Text ihres Gedichtes darunter. “So, das musste sein,” sagte sie sich.
Das Gedicht habe ich nicht umsonst geschrieben. Es gefällt mir noch immer und darum ist es nicht umsonst.”
Ihre Gedanken gingen in die Vergangenheit zurück und zu ihren Eltern. Es war Wehmut nach der Kindheit und den Gedanken, Gefühlen und Gerüchen dieser Zeit. Wieder begleitete sie dieses Seufzen, was aus tiefstem Herzen kam.
Dann erhob sie sich plötzlich, holte die Tageszeitung raus, schaute auf die Rubrik der Leserbriefe und sandte das Gedicht samt Foto an die Zeitung ohne großen Kommentar. Ein paar Tage später sah sie es gedruckt in ihrem Tageblatt unter “Besonderes”. Sie setzte sich und war sehr glücklich. Einfach so. Etwas hatte sich geschlossen seit Kindheitszeiten. Nichts ist umsonst und nichts war umsonst.
Grau ist der Himmel, grau ist die Welt,
das Firmament über uns wie ein Zelt
ist trübe, fahl und dunstig
Regentropfen fallen herab,
berühren den Boden, manch einsames Grab,
wie Tränen, die dann im Bächlein verrinnen,
fallen die Tropfen
wie Perlen von innen
erleuchtet.
Ein zartes Licht steigt zaghaft empor
und aus den Tälern steigt noch hervor
der Nebel, der Nebel.
Gold streift am Horizont entlang
gigantischen Leuchten mit leisen Gesang,
das Gold wird größer und leuchtender noch
und aus dem Grau
tritt plötzlich hervor
die Sonne, die strahlende Sonne.
Ein paar Tage später erschien ein kleiner Leserbrief zu diesem Gedicht in der Zeitung. Ein ganz kleiner Leserbrief. Der lautete:
Wunderschön!”
Von nun an zeigte sie niemandem mehr ihr Gedicht. Irgendeiner hatte es schön gefunden. Das reichte ihr. Alles war nun gut, denn die ganz kleine Lücke in ihrem Herzen hatte sich für immer geschlossen. Nach 60 Jahren. Es gab jemanden, der genauso verschroben oder aus der Zeit gefallen war wie sie.
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