Ich bin das kleine Mädchen im Krieg

Letzte Nacht habe ich vom Krieg geträumt. Kein Wunder! Aber ich träumte vom letzten Krieg 1939-1945. Und ich war überrascht, wie viel ich plötzlich erinnerte. Ich dachte, ich sei zu klein gewesen, um es noch zu wissen. Und nun, in diesem Traum kam viel Erinnerung zurück.

Als wir noch in der Stadt wohnten, hörte ich oft von weit entfernt Kanonenschüsse, nur wusste ich nicht, dass es Kanonenschüsse waren. Unsere Eltern müssen das wohl erzählt haben. Aber was waren Kanonen? Und warum kam aus den Rohren Feuer raus? Und was war Krieg?

Ich war zwei Jahre alt und die Unruhe teilte sich täglich mehr mit und schließlich nahm mein Vater, der zu dem Zeitpunkt noch nicht zu den Soldaten eingezogen war, die ganze Familie und ging mit uns aufs Land. Dort war es auch zunächst sehr viel ruhiger und sicherer. Das machten viele Familien mit ihren Kindern. Aber allmählich kamen die Geräusche des Krieges bis ins Dorf und die Sirenen hörten wir immer öfter.

Es muss 1943 gewesen sein. Ich weiß nur, dass ich mich ganz klein fühlte und gerne schon groß gewesen wäre, um alle im Keller zu trösten und ihnen vorzusingen. Doch wer hörte schon auf mich! Für Musik und Tanz gab es keinen Platz und keine Zeit. 

Immer wenn die Sirene los ging, die einen Angriff von Fliegern über uns ankündigte, packten wir alle das Nächste, was uns die Mutter oder der Vater gab, und zogen in den dunklen Keller. Meine Mutter, die nach mir noch Zwillinge bekommen hatte, schnappte sich ein Kind, mein Vater das andere und zusammen mit dem Kinderwagen ging es in den dunklen Schutz.

Warum nimmst Du ewig die Karre mit,“

fragte mein Onkel. „Weil ich da immer alle Würste drin aufbewahre. Und wenn wir mal länger hier unten bleiben müssen, haben wir wenigstens für jeden ein Stück Wurst und so…“, sagte meine Mama und alle mussten trotz der schlimmen Lage lachen. „Ob ich von einem Happen Wurst satt werde möchte ich doch bezweifeln,“ jaulte mein großer Bruder und auch meiner große Schwester schien das ein bisschen zu wenig zu sein. Mir war es egal, obgleich ich so harte alte Wurst sehr gern kaute.

Immer, wenn wir die Zeit im Keller gut überstanden hatten, dankte mein Vater dem lieben Gott und wir stiegen wieder all die Treppen nach oben, um dann endlich mal ein bisschen zu schlafen und zur Ruhe zu kommen.

Im Krankenhaus

Ich erinnere auch, dass ich einmal für eine ganze Weile in einem großen kahlen Raum lag und Schmerzen hatte. Welche weiß ich nicht mehr. Aber wie mir meine Eltern sagten, war ich in einem Krankenhaus und in diesem großen Raum mutterseelenallein. Ich lag in einem Bettchen, über mir baumelte eine schwach leuchtende Birne und ich weinte stundenlang vor mich hin. Die Ärztin kam und zeigte mit der Hand auf ein ganz kleines Fenster und meinte dann: „Schau mal, das sind Deine Eltern, Mama und Papa.“ Ich sah sie nicht, glaubte aber der Ärztin und winkte meinen Eltern zu. Ich hatte Diphtherie und war hochansteckend und niemand  durfte zu mir. Ich war so einsam, dass ich noch heute spüren kann wie schlimm das für mich war. Und meinen Eltern brach es das Herz.

Tagsüber durften wir auch nicht einfach rumtoben. Wir mussten immer erreichbar sein und jeder sollte etwas mit in den dunklen Keller nehmen, was ihn trösten konnte. Ich nahm meine kleine Mundharmonika  mit und mein Vater erinnerte sich später daran, dass es ihn tröstete, wenn er mich spielen hörte. Dann kam der Moment, wo besonders schlimm geschossen wurde und die Flieger über unseren Köpfen bedrohten uns so sehr, dass wir erstarrten. Nur ich schaute fasziniert zum Himmel, der glutrot wurde und lief dem Feuer entgegen, während meine Mutter schluchzte:

Kassel brennt. Wo ist mein Vater? Kassel brennt!“

Mein Vater holte mich ein und drückte mich so heftig an sich, dass ich erschrak, während er flüsterte: „Tu das nie wieder. Wir müssen immer schön zusammen bleiben. Dann kann uns nichts passieren.“ Ich höre das noch heute und fühle mich für Sekunden wieder wie die Kleine!

Als es dann langsam ruhiger wurde, der Himmel aber noch immer blutrot, ergriff mein Vater wie jedes mal das Wort und dankte dem lieben Gott für die Gnade uns beschützt zu haben.

In jener Nacht starb mein Großvater in einem Bunker mit vielen anderen Menschen der Stadt.

Als ich heute morgen aufwachte, dachte ich wieder an den Krieg, aber diesmal an den in der Ukraine. Vor unserer Haustür! 

Wie zart ist diese Pflanze Hoffnung und wie sehr muss der Friede gehütet werden. 

Engelskinder