Marianne hatte die ganze Nacht ziemlich unruhig geschlafen. Sie wusste nicht warum. Immer wenn sie auf die Uhr sah, war die Zeit kaum vergangen. „Das haben Uhren wohl so an sich,“ dachte sie noch: „Entweder vergeht die Zeit nicht oder sie rast uns davon.“
So gegen vier Uhr stand sie auf, ging zur Veranda und sah hinaus. Es war noch dunkel und nur eine Laterne zerschnitt die Dunkelheit. So ging sie wieder zurück ins Bett. Doch als es schließlich fünf Uhr war, sie noch immer nicht wieder wirklich ruhen konnte, stand sie endgültig auf, zog den Morgenmantel an und leicht torkelnd schaute sie zur Straßenseite hinüber, um zu sehen, ob die Busse schon fuhren.
Es war dämmrig, kein Mensch stand an der Haltestelle und nur ein Auto fuhr durch den einsetzenden Regen.
Sie setzte Kaffee auf und Augenblicke später fing das Wasser an zu brodeln und der Duft ließ die Sinne schon etwas wahrnehmen. Kaum war das Wasser durchgelaufen, nahm sie die Tasse, füllte sie mit dem duftenden Kaffee und taumelte in der Dunkelheit des Raumes zurück zum Sessel auf der Veranda Seite.
Die Bäume und Büsche bewegten sich nicht und der Garten lag da in großer Stille. Der Regen tropfte und tropfte sanft vor sich hin.
Sie schob den Sessel so lange am Fenster entlang, bis sie das Laternenlicht nicht mehr sehen konnte, das noch immer wie ein harter Schnitt den Garten spaltete. Es war schon dämmrig geworden und am Horizont konnte man ein bisschen Bläue sehen. Vielleicht würde das Wetter im Laufe des Tages besser werden. Aber noch verlangte die Erde das Wasser, was sie Monate lang entbehren musste.
Nachher gehe ich in den Garten,“
so gab sie sich das Versprechen, „und steche den letzten Löwenzahn aus, den wir am Wochenende nicht rausziehen konnten, weil die Sonne zu heiß und der Boden zu hart waren.
Und dann muss ich mich fertig machen, weil unser Sohn heute vermutlich am Nachmittag mit seiner Familie aus Philadelphia kommt. Er will noch anrufen, um zu sagen, wann er ankommen wird. Ich darf nicht vergessen, das Telefon überall hin mitzunehmen, damit ich es höre. Habe immer Panik, dass ich etwas überhöre. Mit 85 Jahren darf man doch mal ein bisschen Probleme haben.“
Bis zum Mittag hatte ihr Sohn noch nicht angerufen und sie fing an, unruhig zu werden. Er sollte sie schließlich nicht mit dreckigen Händen, alten Klamotten und schmutzigen Schuhen vorfinden.
Sie war fast am Ende mit der Ausstecherei des Löwenzahns und packte langsam alle Gartengeräte ordentlich weg. Den Löwenzahn wollte sie den Hamstern des Nachbarn anbieten. Mal sehen, ob die noch an dem Grünzeug Interesse haben würden. Ganz frisch sah das natürlich nicht mehr aus. Sie dachte aber,
Hamster sehen das anders. Für die muss der Geruch stimmen, nicht das Aussehen.“
Nun kümmerte sie sich endlich um ihr Äußeres und als sie am Ende auch das bewältigt hatte und sie ganz ordentlich, wie sie dachte, aussah, klingelte das Telefon wie bestellt zur richtigen Zeit. Ihr Sohn meldete sich mit „Hi, Mom, wie geht es Dir? Alles okay?“ — „Ja, alles in Ordnung! Wann kommt Ihr an und wie geht es mit Euch weiter?“, fragte sie.
„Wir sind gegen siebzehn Uhr in Frankfurt und nehmen dann den Flieger um neunzehn Uhr zwanzig nach HH, haben dort aber schon ein Auto gemietet, so dass wir so gegen einundzwanzig Uhr allerspätestens bei Dir sind. Essen wollen wir nicht mehr, stell uns nur ein schönes Glas Rotwein hin, für die Kinder Apfelsaft, den deutschen, den sie sehr lieben und ein bisschen was zum Knabbern. Ich rufe jetzt nicht nochmal an, auch wenn wir erst in zwei Tagen fliegen, denn es ist noch viel zu tun und die Kinder haben noch die zwei Tage Schule, so dass keiner mehr richtig Zeit findet für Dinge, die nicht auf dem Plan stehen. Also bis zum Zweiten September spätestens abends um 21 Uhr haben wir ein Rendezvous mit Dir, Mom! Küsschen von allen!“
„Was war das denn? Sie wollten erst in zwei Tagen kommen. Was habe ich da falsch verstanden?“ Sie ging zu ihrem Kalender und siehe da, es war der zweite September, den sie auch eingetragen hatte. „Wie konnte mir das passieren, dass ich die Daten vertauschte? Ich bin doch nicht dement! Ich bin doch erst 85!“
