Keine Zeit zum Träumen

Seit Monaten ging es Amalia nicht gut. Mit ihren mittlerweile 76 Jahren hatte sie manch kleines körperliches Problem. Der Blutdruck zu hoch, noch immer Hitzewellen. Zahnprobleme, schwaches Herz, geschwollene Beine und noch einiges mehr. In den letzten Wochen hatte sie viel darüber nachgedacht, wie sie sich ihren restlichen Lebensabend vorstellen könnte. Man kann sich ja mal das eine oder andere wünschen, so dachte sie und begann sich auszumalen, wie langsam oder schnell sie zum Beispiel für immer einschlafen wollte… Auf jeden Fall wollte sie einschlafen ohne Schmerzen, wenn man sich das schon mal so wünschen könnte. Also eigentlich einfach nur einschlafen ohne wieder aufzuwachen. Das aber würde wiederum bedeuten, dass sie schon alles vorbereitet haben müsste für den Tag x, was man so seinen Kindern hinterlassen möchte.

Je einen Brief an jedes ihrer Kinder, dann ein kleines Testament, wo alle ihre wichtigen und liebsten Menschen bedacht werden sollten mit irgendeinem kleinen Erinnerungsstück. Vielleicht noch die Bitte zusammen zu halten, weil das um der Familie willen wichtig sei für jeden, so dass keiner ganz alleine sein würde,  wenn er mal in Not wäre.

So fing sie an abends ins Bett zu gehen, um darüber nachzudenken, was sie jedem mit auf den Weg geben wollte. Sie fand die Briefe, die sie in Gedanken schrieb, wunderschön. Doch am nächsten Morgen waren sie vergessen. Abends ging sie wieder zu Bett, schrieb in Gedanken den nächsten Brief und fing ein bisschen an zu weinen, weil der so schön war. Doch am nächsten Morgen war auch der vergessen. Wie schade! Und wie wollte sie beerdigt werden? Mit Pastor und vielen Gebeten oder sollten die Kinder ein paar schöne Worte finden? Oder singen?

Ach,“ so sagte sie sich, „ich habe ja noch viel zu tun und kann noch nicht sterben!“

Sprachs und begann sofort darüber zu meditieren, was sie noch alles vorhatte zu erledigen.

Dann suchte sie unter den Bildern das gemalte Portrait heraus, welches sie in herrlicher Traurigkeit zuletzt gemalt hatte, und stellte es auf ihren Schreibtisch in Gedanken daran wie es ist, wenn die Zeit ein bisschen knapper wird.

Und außerdem musste sie mal wieder unbedingt zum Doktor gehen, denn der Blutdruck war weiterhin zu hoch. Dazu ließen die nervigen Hitzewellen noch immer nicht nach. Das musste der Doktor doch endlich in den Griff kriegen.

Mein Gott, was es noch so alles zu tun gab! Noch nicht mal Zeit zum Träumen habe ich!“