Kindheitserinnerungen an meine Schwester

Seit Tagen denken wir ganz viel an meine Schwester, die im Alter von fast 90 Jahren gestorben ist. Sie ist ganz einfach gestorben, nicht weil sie Krebs oder eine böse andere Erkrankung hatte, sondern weil sie am Ende ihres Lebens angekommen war und das müde Herz aufhörte zu schlagen. Ich denke, das ist Gnade.

Dass ich so viel an sie denke, ist klar, denn was haben wir in den vielen Jahren nicht alles gemeinsam direkt nach dem Krieg erlebt. 

Das Essen war nicht üppig, die Kleidung nicht brillant und vor allem war auch Baden nicht eine Sache, mal eben den Wasserhahn aufdrehen und das warme oder heiße Wasser kam geflossen. Ich erinnere noch, wenn wir samstags badeten, benutzten wir eine große lange Badewanne, die in unserer kleinen Küche aufgestellt wurde, eine Zinkbadewanne war das und unsere unglaubliche Mutter füllte jedes mal, wenn das Wasser auf dem Herd im großen Kessel heiß war, in der Wanne nach. Der erste, der ins Wasser steigen durfte, war mein großer Bruder. Danach wurde mühselig das Wasser aus der Wanne geholt und neu gefüllt. Dann durfte meine Schwester glücklich in das frische, heiße Wasser eintauchen. Wir kleineren wurden alle rausgeschmissen mit Geschrei, damit keiner ihre Schönheit entdecken solle, sprich ihre Nacktheit. Sie aalte sich in den Fluten und es duftete an diesem Tag nicht nach Kernseife, sondern Palmoliveseife. Wenn sie fertig war, kam ich an die Reihe.

Das war der schönste Moment vom Samstag Baden…

Dann kam nämlich meine Schwester in der Unterwäsche wieder in die Küche, um sich schön zu machen. Meist trug sie dazu einen weißen Unterrock, der saß überall so, wie ich es bei mir auch gewünscht hätte — knackig eng und alle Biegungen des Körpers wurden damit so schön plastisch, weil sie den Unterrock ausfüllte. Sie ging zum Spiegel, den sie vom Wasserdampf befreien musste, um etwas sehen zu können, und dann fing sie mit Akribie an, das Gesicht und Dekoltee zu durchforsten, um Pickel aufzuspüren. Und wenn sie welche fand, drückte sie sie vorsichtig mit einem Tuch aus… und ich merkte mir das. Allerdings habe ich das nie zu so einer solchen Meisterschaft gebracht wie sie, denn meine Pickel haben sich regelmäßig entzündet. Aber ihre nicht. Das war schon toll. Dann arbeitete sie an ihren Haaren. Sie hatte hübsche, dunkle Locken, die auf der Schulter immer ein bisschen golden schimmerten. Ich war hingerissen.

Immer, wenn ich ihr dabei von der Badewanne aus zuschaute, dachte ich, wie hübsch sie ist. Bis auf ihre Nase, die etwas zu stark nach oben schwang, stimmte das wirklich. Sie hatte ganz runde, dichte Augenbrauen und ich fand ihre Augen toll, besonders, wenn sie die Brille gerade abgezogen hatte. Dann konnte sie kaum etwas erkennen. Doch der Ausdruck ihrer Augen war dann ein bisschen hilflos, fast wie bei Liz Taylor, ihr Mund herzförmig und die Zähne schneeweiß. Sie machte sich zurecht, weil sie samstags meist ausgehen wollte. Und ich nahm es außerordentlich ernst, sie erst gehen zu lassen, wenn es an ihr nichts mehr zu bemäkeln gab.

Ich war eben ganz schön wichtig für sie.

Ach, was ich besonders liebte, wenn sie von der Arbeit kam und wir beide alleine ins Kino gingen. Meist flüchteten wir vor Mutti und dem ungewaschenen Berg Geschirr. Einmal, ich hatte fürchterliche Halsschmerzen und auch schon Fieber, kam meine Schwester und spendierte mir wieder mal einen Kinobesuch. Ach göttlich, alle Halsschmerzen der Welt waren weg. Wir kauften vorher noch unsere obligatorische Kochwurst und dann saßen wir im Kinosessel. „Elefantenpfad„, so hieß der Film mit Liz Taylor, dazu die herrliche Bockwurst — ich habe nie wieder so leckere Bockwurst gegessen — und der Hals wurde immer enger. Aber es gab nichts, was mich in dem Augenblick hier hätte vertreiben können:

im Kino — bei Liz — bei meiner Schwester — und in diesen unglaublich gemütlichen Sessel gekuschelt zu sein, um die von ihr spendierte Kochwurst zu futtern.

Das war einfach nicht zu überbieten.

Ja, solche Geschichten gab es viele und meine große Schwester konnte mich ganz schnell glücklich machen.

Dann kam die Zeit, wo sie ihren Freund kennenlernte, in den sie sich schwer verliebte. Ich musste sie als 13jährige warnen, weil er so groß und dazu noch Lehrer geworden war, der alles besser wusste. Aber nichts half, nichts. Sie liebte ihn einfach und dazu behauptete sie auch noch, dass er wie Karlheinz Böhm aussähe. Und ich dachte nur:

Ist sie blind vor Liebe?“

Ich weiß nicht mehr, ob es vor oder nach ihrer Verlobung war. Es wurde der wohl dunkelste Punkt in der Beziehung zu meiner Schwester.

Sie, die mir Kochwürstchen und Kino spendiert hatte, mir heißgeliebte Fotos von Maria Schell und O.W. Fischer geschenkt, sie musste ich so enttäuschen und reinreißen. Es war einfach tragisch:

Meine Schwester fuhr zu ihrer Tante nach Karlsruhe. Dort sollte sie zwei Tage (oder mehr) bleiben. Anschließend wollte sie sich mit ihrem Freund und Verlobten treffen — so ganz, ganz geheim — irgendwo. Damit das klappte, brauchte sie einen Mitwisser. Das war ich. Welch eine Krönung in meinem jungen Leben! Sie gab mir einen Briefumschlag, in dem Fotos von Liselotte Pulver und Romy Schneider waren und daneben steckte eine frankierte Postkarte, die an die Tante gerichtet war. Diese Karte sollte ich zwei Tage später in den Postkasten werfen, damit die Tante denken sollte, meine Schwester wäre wieder gut zu Hause angekommen. Auf diese Weise konnte meine geliebte Schwester ein oder zwei Tage mit ihrem Verlobten unentdeckt allein sein. Toll,nicht wahr!? Wie im Kino! Und ich sollte nun die Fäden in der Hand halten, damit alles klappt.

Ich war zu schnell.

Ich warf zielstrebig, meine Schwester durch meine Verlässlichkeit beglücken wollend, die Postkarte zu früh ein.

Die Tante erhielt die Postkarte am Tag der Abreise meiner Schwester. Das konnte ja kaum stimmen. Verstört rief die Tante in Kassel an, was man zur damaligen Zeit noch nicht allzu oft tat, denn nicht jeder hatte schon ein Telefon. Und so brach dann — als meine Schwester und der Verlobte — natürlich nichtsahnend daheim ankamen, noch beglückt von der Nähe des anderen — ein riesiger Zoff los. Ich war froh, dass wenigstens ich mich verdünnisieren konnte. Und ich zauberte mir ein großes Loch, in dem ich möglichst schnell verschwinden konnte.

Es gibt noch viele Geschichten und Begebenheiten. Das Schlimmste war ihr Verbrauch von Sagrotan, als ihre Kinder geboren wurden und wir sie kaum anfassen durften. Bevor wir nicht einen Kittel anhatten, frisch gewaschen und gebügelt, und mit Sagrotan besprüht, durften wir die Kleine nicht berühren. Liebe hat eben viele Gesichter.

Nun ist sie gestorben und ich glaube genauso, wie sie es mal beschrieben hat. Sie ist in ein Boot gestiegen und sanfte Wogen trugen sie bis in den Himmel.

Alles ist gut!