Klassentreffen, oder: Wie ich unseren Musiklehrer hereingelegt hatte

Als ich die Einladung zu unserem 35. Jubiläum bekam, hatte ich keine Lust zu unserem Klassentreffen zu fahren. In all den Jahren hatte ich nur mit einer einzigen Mitschülerin, Ingeburg, Kontakt. Und das nur, weil sie so lieb und so unglaublich treu war. Alles andere lag für mich in einem gnädigen Nebel der Vergessenheit. Bis zur 8. Klasse fand ich vieles noch ganz wunderbar. Aber als wir in die Tiefen der Mathematik stießen und auch Latein mich zwang mehr zu lernen, wurde dieses unbeschwerte spielerische Dasein im Gymnasium doch erheblich unbequemer.

Mein Mann aber meinte: „Fahr doch hin. Meist ist es viel schöner als man denkt…“

Also machte ich mich auf und fuhr von Hamburg nach Kassel. Wir waren alle in einem Café verabredet und ich stieg ziemlich lustlos die Treppe zu jenem 50ger Jahrebau hinauf. Einen Augenblick schaute ich durch die Glasscheiben in den Innenraum und plötzlich war alles anders. Ich erkannte Gesichter wieder – ich erinnerte Namen, einige sahen aus wie vor 30 Jahren – mehrere hatten den Gesichtsausdruck, wie ich ihn noch erinnerte, selbst wenn die Spuren der Zeit darüber gegangen waren. Ich trat zwischen die „Mädels“ und auch ich wurde begrüßt, als sei ich erst gestern weggegangen.

Eine Wärme durchzog meine Seele und ich saß glücklich zwischen den Gespielinnen unserer Vergangenheit. Da löste sich aus der Gruppe einiger Raucherinnen eine Person, die ich nicht gleich erkannte. „Ich bin Roswitha. Erkennst Du mich noch?“ Ganz verschwommen kehrte irgendeine Erinnerung zurück.

„Ich verdanke Dir, dass ich von der 7. in die 8. Klasse versetzt wurde,“ sagte sie lächelnd. „Ich habe mich so gefreut, dass Du gekommen bist. Ich musste Dir unbedingt nochmal danke sagen.“ – „Aber wofür denn?“, fragte ich. „Ich habe noch nie etwas tolles für oder in der Schule getan. Also sprich!“

„Du weißt das nicht mehr?!“

„Nein!“

„Ich kam eines Tages zu Dir und fragte, ob Du mir in Musik helfen könntest, da Du die beste warst. Ich brauchte dringend noch einen Ausgleich für meine Mathe – fünf.“

Herr Schleiden, unser Musiklehrer, wollte Roswitha nochmal eine Chance geben, sich in Musik zu verbessern. Noch immer sah ich Roswitha erwartungsvoll an.

„Ja, und dann?!“

„Du hast mir vorgeschlagen, für mich zu singen. Ich sollte in der ersten Reihe stehen im Musikraum und Du würdest Dich hinter mich hocken und für mich singen. Bedingung: Ich müsste den Text perfekt können, um die Lippen richtig zu formen, während Du sängest. Da Herr Schleiden mich auf dem Klavier begleiten würde, könnte er nicht laufend auf mich schauen.“

„Und?“, fragte ich, „hat es geklappt?“

„Perfekt, ich bekam eine sehr gute zwei!“

„Und er hat nichts gemerkt?“

„Nein, er hat auch nie etwas gesagt!“

„Kannst Du mir sagen, warum ich in der Schule mal endlich was nettes getan habe und anschließend nicht mehr weiß?“, fragte ich verblüfft.

„Tja, vielleicht, weil es nicht ganz rechtens war – alle Mädels hatten mitgespielt – und hinterher wagte keiner mehr darüber zu reden. Unser aller Geheimnis!“

„Schade, dass es Herrn Schleiden nicht mehr gibt. Heute würde ich gern fragen, ob er etwas gemerkt hätte. Nett genug wäre er ja gewesen, um zu schweigen.“