Vor ein paar Tagen war unsere Freundin mal bei mir und erzählte die Geschichte, die ihre Großmutter vor einigen Wochen erlebt hatte. Ihre Großmutter war mit ihren 94 Jahren noch gut bei Schick, Kopf und Fuß. Ihr fiel nur auf, dass sie immer einsamer wurde, was ihre Freunde betraf. Fast alle hatte schon, wie sie sagte, der Gevatter Tod geholt und sie war jetzt seit kurzem die letzte, die noch aus diesem Freundeskreis übrig geblieben war.
Da das Wetter in diesen Tagen sehr gut war, wollte sie die Freunde mal wieder auf dem Friedhof begrüßen. Mal sehen, was die so zu erzählen hatten. Sprach’s und machte sich zu einem langen Spaziergang bereit.
Hier lag der alte Dieter, an der Ecke zur Kirche hatte man Adele ein gemütliches Grab gebaut und dort bei Saskia war dem Ehemann entweder das Geld ausgegangen oder er hatte das Grab lange nicht besucht, da es verwahrlost aussah. „Tja, so sind nun mal manche Männer. Kaum hat man sie nicht mehr unter Kontrolle, dann schlampen sie.“ Sie bückte sich und ordnete ein paar alte Gestecke und zupfte verwelkte Blumen raus, um dann weiter zu laufen.
Irgendwann fiel ihr auf, dass es schon dunkel wurde und sie machte sich auf um zum Ausgang zu gehen, nicht ohne Alfredo, dem Spanier alter Schule noch einen kurzen Besuch abgestattet zu haben. Der war wirklich bis ins hohe Alter ein toller Typ gewesen. Lustig und charmant. Dazu kam, dass seine deutsche Sprache sehr unperfekt war und er viele Ersatzworte suchen musste, um etwas zu erzählen. „Ach,“ dachte sie, „wie gerne würde ich ihn nochmal reden hören.“ Durch die langsame Dunkelheit wanderte sie bis zum Eingang.
Das Tor ist zu!
Und dann stand sie verblüfft vor den Friedhofstoren, die mittlerweile verschlossen waren. Sie versuchte die Mauer hochzuklettern, aber die Beine wollten nicht so wie sie das wollte. Sie dachte darüber nach irgendwie das Tor zu überwinden, doch auch hierfür waren ihre Beine zu kurz. Sie keuchte ein bisschen, als sie zum dritten und vierten Versuch ansetzte, um sich an der Mauer festzuhalten, während sie an ihr hochsteigen wollte.
Einen Augenblick kratzte sie sich an Kopf, so dass ihr leicht verschwitztes Haar in Unordnung geriet und dann fischte sie kurzer Hand ihr Handy aus der Tasche. “Wozu habe ich schließlich ein Handy,”murmelte sie und überlegte, wer sie am besten aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Ihre Kinder wohnten zu weit weg und waren vor allem zu alt. „Die kriegen meist am Abend kaum noch ihren Hintern hoch,“ so befand sie und rief dann die Polizei an. „Die Polizei, Dein Freund und Helfer,“ so sagte sie sich, wird sie retten.
Dein Freund und Helfer
Sie beschrieb den Beamten die Stelle, wo sie sich befand und keine zehn Minuten später waren zwei Polizisten auch schon zur Stelle. „Wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Nun helfen Sie mir doch bitte über die Mauer, ja, meine Herren!?“ – „Nein, das schaffen Sie nicht. Auch nicht mit unserer Hilfe. Wir müssen das Eingangstor aufbrechen!“ – „Aber um Gottes Willen nein, das wäre ein Ärger. Und was sollen die Leute morgen von mir denken, wenn sie hören, dass wegen mir die Tore aufgebrochen werden mussten. Nein,helfen Sie mir lieber über die Mauer zu steigen und alles ist gut.“ – „Das schaffen Sie nicht,“ meinte der größere noch einmal. „Das müssen Sie schon mir überlassen. Ich habe nur zu kurze Beine, aber ein gesundes Herz. Nun machen Sie mal, junger Mann und schwingen Sie sich über die Mauer. Oder können Sie das vielleicht nicht mehr?“
Natürlich ließ sich der junge Mann das nicht zweimal sagen, nachdem seine Kraft in Frage gestellt wurde, sprang an den oberen Rand der Mauer und kam dann langsam gleitend auf der anderen Seite wieder runter. Dort hob er die Großmutter bis fast auf die Schultern, so dass diese den oberen Rand der Mauer leicht erreichte und sich darauf legte. Sie ließ sich nach Aufforderung des zweiten Polizisten langsam auf der anderen Seite runter direkt in dessen Arme gleiten. „Nicht schlecht für so ein altes Huhn wie mich,“ dachte sie und schüttelte sich leicht. Der erste Polizist kam auch zurück.“ Sie waren ja doch noch ein bisschen gelenkig,“ meinte er und sie gab zurück: „Das war doch erstrebenswert für mich. Schließlich hat man ja nicht jeden Tag einen Mann zur Hand, der einen auffängt!“ Da mussten alle drei lachen und unsere alte Lady bedankte sich herzlich für die handgreifliche Hilfe. Sie lehnte die Begleitung der Polizisten ab und ging nun zügigen Schrittes nach Hause.
Blumen für die Retter
Am nächsten Tag kam sie dann auf die Wache und brachte einen riesengroßen Blumenstrauß mit und erzählte allen Mitarbeitern, was für tolle Kerle die beiden gewesen seien, als die sie aus der misslichen Lage auf dem Friedhof befreiten.
Man muss sich nur zu helfen wissen. Dann wird alles gut!
Als meiner Mutter mal das gleiche passierte, dass die Friedhofstore schon geschlossen waren und somit Tor und Mauern zu hoch, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen. Und da es damals um 1955 noch keine Handys gab, machte sie es sich gemütlich, weil die Wetterlage eine gute war und sie legte sich neben das Grab meines Vaters und döste ein. Bei ihrem Mann konnte ihr schließlich nichts passieren, so dachte sie. Und erst als die Kirchturmuhr laut zur Mitternacht schlug, wurde sie wach und schaute gespannt auf die Gräber. Es gruselte ihr schon ein bisschen. Es kamen ihr Erinnerungen an alte Geistergeschichten in den Sinn und für kurze Momente schaute sie um sich, ob nicht hier und da ein Geist aus der Gruft entstieg.
Als sie mir das am nächsten Tag erzählte, ich war noch ein Kind, erschauerte ich und fand, dass sie eine verdammt tapfere Frau gewesen sei, sich möglicherweise auch den Gruftis gestellt zu haben. Doch ich glaube auch, wenn es schon ein Handy gegeben hätte, sie hätte es dann sehr gerne benutzt, um sich retten zu lassen, auch wenn nur vor den nicht vorhandenen Geistern…Schließlich weiß man ja nicht so genau, ob es sie gibt oder nicht…
