Hier geht die Geschichte der zwei Fremden weiter, die man 1943 zu uns nach Hause brachte (Teil 1).
Nach dem schweren Angriff auf Kassel 1943 war mein Vater kaum noch nach Kassel gefahren, denn es sah dort trostlos und zerbombt aus. Henri fragte einmal, ob er ihn mitnehmen könne, weil er sehen wollte, warum die Menschen alle so entsetzt über den Angriff auf Kassel sprachen. Frans wollte nicht mitkommen. So fuhren mein Vater und Henri in die Stadt und als sie heimkehrten, gab es nur das große Schweigen. Vater sprach nicht viel, aber Henri schwieg völlig. Und von da an bis zu seinem Abschied von uns blieb er sehr, sehr still.
Der Krieg war aus und Henri wollte nach Hause, nach Bordeaux. Meine Mutter packte ihm Proviant ein für ein halbes Jahr, meine Schwester hatte ihm Socken gestrickt, mein Bruder weiß ich nicht mehr und wir Kleinen hatten alle ein Bild gemalt mit Buntstiften, die so schlecht waren, dass man kaum das Bild erkennen konnte. Aber er packte sie sorgsam ein wie alle anderen Gaben. Plötzlich umarmte er meinen Vater mit Tränen in den Augen: „Deutsche sind feine Leute, ich glücklich hier. Aber habe großes Loch in meine Herzen, wenn ich denke Kassel. Kaputt, kaputt, kaputt. Ihr liebe, liebe Leute.“ Mein Vater stammelte noch schnell: „Du bist ein wunderbarer Franzose. Komm gut nach Hause.“ Dann stieg Henri auf den Lastwagen, der ihn abholte, während wir enthusiastisch winkten und meine Eltern ganz fürchterlich weinten. Frans meinte leise:
Bitte ich noch nicht weg. Ich liebe Euch!“
Das war noch mehr Grund für meine Eltern nicht aufzuhören zu weinen.
Mein Vater wollte unbedingt, dass Frans mit seinen Eltern sprechen sollte, damit diese wüssten, das alles in Ordnung sei mit ihm. Und vor allem auch, wie mein Vater sagte, wir Deutschen den Belgier nicht gefressen hätten.
Frans war so ein netter Mann. Er sah witzig aus, aber er war es auch. Den ganzen Tag schmunzelte er, als erzähle er sich selbst viele lustige Geschichten. Als wir 1947 wieder nach Kassel zurückkehrten, wo mein Vater inzwischen schon wieder ein provisorisches Zuhause für uns geschaffen hatte, kam Frans noch für ein paar Wochen mit uns und half, überall die Trümmer wegzuräumen. Das fand kein Ende. Seine Eltern hatten ihm geschrieben, er möge nun kommen, denn sie wollten ihn endlich heil in die Arme nehmen.
Am letzten Abend plötzlich fragte unsere Mutter Frans, der inzwischen doch ganz toll unsere Sprache sprach, ob er sagen könne, warum Henri fast nie seine Mütze abgezogen habe. Frans grinste und sagte: „Ja, er hatte gar nichts besonderes darunter. Aber ein französischer Priester hatte ihn mit seiner Mütze gesegnet, damit ihm bei den bösen Deutschen nichts passieren sollte.“ Daran habe er geglaubt. Später, nach einer ganzen Weile, hatte er sich aber so an die Mütze gewöhnt, dass er oft vergaß sie abzusetzen. Am vorletzten Tag wollte Henri sie Frans schenken als Schutz vor fremden Deutschen. Aber er, Frans, habe nur gelacht und gesagt:
Ich werde vom Chef und Madame beschützt. Das reicht mir!“
Nun waren die Tage mit Frans gezählt und wir Kinder konnten uns nicht vorstellen, wie unser Leben ohne ihn so fröhlich weitergehen sollte. Er wurde von einem großen Lastwagen mitgenommen, auf dem schon weitere junge Männer saßen. Als der Wagen losfuhr, liefen wir noch eine Weile nebenher, riefen und winkten ihm zu. Selbst dann noch, als die erste scharfe Kurve kam und wir ihn nicht mehr sehen konnten.
Wochen später kam eine erste Postkarte von ihm. Da schrieb er, dass er glücklich zu Hause angekommen sei, aber er müsse immerzu an uns denken. Seine Eltern hätten ihm versprochen, einmal mit ihnen zusammen zu uns nach Deutschland zu kommen. Wann genau, das wisse er noch nicht. Aber er hoffe möglichst bald. Wir schickten ihm einen langen gemeinsamen Brief und luden seine Eltern ein, zu uns zu kommen. Frans antwortete bald darauf und und wir mussten sehr lachen, was er da schrieb:
Liebe Chef, liebe Madame, liebe meine Kinder,
Meine Papa und meine Mama wollen sich erste male besegnen lassen von unsere Priester, weil auch sie nicht glauben, dass die deutsche Leute keine Menschen fresse. Sie machen wie Henri und lassen dann Mütze auf den Kopf. Bis wir uns wieder sehen, es wird noch ein bischen dauern.
Viele Böhnchen und Kartöffelchen
Frans
Noch einmal kam ein Brief und darin steckte eine Postkarte mit dem Foto eines wunderschönen Mädchens.
Dies die Frau meines Leben. Ich heiraten und habe dann meine wunderbare Madame wie meine Chef…
Viele Böhnchen und Kartöffelchen
Frans
Danach haben wir nie wieder etwas von ihm gehört. Und auch als wir ihm schrieben kam nie wieder eine Antwort.
Viele Jahre später, als meine Mutter gestorben war und mein Bruder und ich ihren Nachlass ordneten, fand ich eine Karte von Frans unter der Post. Darin kündigte er seinen Besuch mit seiner Frau an. Das war genau drei Tage nach dem Tod meines Vaters. Ich fürchte, auf diese Post hat meine Mutter nie geantwortet, weil sie so untröstlich traurig war, dass unser Vater gestorben war. Ich las die Adresse und schrieb einen Brief an diese. Aber es gab nie wieder eine Antwort.
So manches mal haben wir uns danach gefragt, wo er wohl sein mochte. Das einzige, was wir wussten war: es hatte ihn gegeben und wir hatten ihn nicht geträumt.
Bildquelle Postkarte: Flickr