Unsere zwölfjährige Nichte aus Namibia sollte für ein paar Monate zu uns nach Deutschland kommen. Ihre Tante wollte sie zu uns bringen, nachdem sie sich die ersten 14 Tage in Heidelberg ein bisschen eingelebt hatte. Aber was passierte? Die Tante hielt es keine Woche mit der Kleinen aus, die kaum redete, ungern in die deutsche Schule ging und überhaupt scheu und zurückgenommen war und blieb.
„Ich halte das nicht aus,“ meinte die Schwester der Mutter.“ sie redet nicht, sie sitzt irgendwo in der Ecke und es ist egal, was immer wir ihr vorschlagen, nichts will sie tun. Wir bringen sie jetzt so schnell wie möglich zu Euch nach Hamburg.“
Meine Schwägerin wollte sie auch nicht bei sich haben. Doch nicht, weil sie etwas dagegen hatte, dieses Kind bei sich aufzunehmen, sondern, weil keines ihrer Kinder mehr im Hause war und sie bei einer älteren Frau leben und wohnen müsste. Bei uns hingegen gab es nicht nur die eigenen, sondern auch genügend Nachbarkinder. Darum war es für uns klar, dass sie willkommen war. Sie würde schon auftauen.
Gespannt erwarteten wir das scheue Mädchen und endlich kam sie mit ihrer Tante zu uns nach Hause. Wir alle begrüßten sie lauthals, um ihr schon gleich einmal ihre Scheu zu nehmen. Doch es klappte nicht und wenn sie nicht jedesmal ausdrücklich gefragt wurde nach Eltern oder Brüdern, dann schwieg sie. Auch das für sie hergerichtete Zimmer belegte sie ohne freudigen Kommentar. „Fühlst Du Dich nicht gut,“ fragte ich sie und sie antwortete: „Doch!“. Nicht mehr und nicht weniger.
„Du kannst nachher, wenn Du willst, mit den anderen Kindern nach draußen gehen und Dich in Haus und Garten ein bisschen umsehen.“ – „Ja!“, antwortete sie.
„Oh, oh,“ dachte ich, „das kann ja heiter werden. Dieses Kind hat ein Problem. Und ich weiß nicht welches. Sie wird es auch nicht erzählen.“ Aber dann beruhigte ich mich wieder und dachte, dass das schon die anderen Kinder mit ihr schaffen würden. „Schließlich sind die alle sehr aufgeschlossen und lustig,“ tröstete ich mich.
In zwei Tagen werde ich Dich in unserer Schule als Gast anmelden und dann kannst Du hier ganz schnell Freunde finden. Du wirst sehen, die sind alle sehr nett.“
„Ja!“ antwortete sie wieder nur.
Die Schule war nicht weit entfernt von uns, ein Gymnasium, wo ich sie angekündigt hatte. Und allen Kindern gefiel es, dass ein Mädchen aus Namibia für ein paar Monate mit ihnen sein durfte. Mal sehen, was die so alles zu erzählen hatte. Ein Mädchen fragte mich im Vorfeld sogar, ob sie zu Hause vielleicht wilde Tiere hätten. Schließlich war es egal, Afrika ist Afrika. Und Namibia liegt schließlich auch in Afrika.
Und in Afrika sind wilde Tiere.
Unlustig zog sie sich am nächsten morgen an, eine silbern glänzende Lurexbluse und irgendeine Hose und ging zusammen mit unseren Kindern in diese Schule, wo sie gleich nett empfangen wurde.
Mittags kam sie nach Hause und als ich fragte, wie die Schule gewesen sei, antwortete sie natürlich mit „Gut!“ und sonst nichts. „Sollst Du auch schon Schularbeiten machen,“ fragte ich sie und ihre Antwort war „Ja!“ Etwas später warf sie einen kleinen Satz mit ein:“Ich soll von Namibia erzählen!“ – „Na, da kannst Du bestimmt ganz viel erzählen und wir alle könnten staunen, was Du darüber zu berichten weißt.“ – „Ja!“
Am nächsten Tag ging sie wieder zur Schule und hinterher blieb sie still in sich gekehrt und ich wusste mir kaum zu helfen. Ich überlegte, ob ich meine Schwägerin in Namibia anrufen sollte. Aber das verwarf ich sehr schnell und dachte daran noch ein bisschen abzuwarten. Auch der dritte Tag war bedrückend für mich und ich nahm mir vor, in der Schule zu fragen, ob man mir etwas sagen könnte.
Doch an diesem Nachmittag bekam ich den Anruf einer Mutter, die mir erzählen wollte, was die anderen Kinder über meine Nichte denken würden. Und sie erzählte auch, dass man sich, wie Kinder nun mal sind, auch lustig machen würden über sie und ihre Kleidung. Da hörte ich nun gut hin. Am Ende war mir klar, unsere Kleine fühlte sich überall ausgegrenzt und fremd. Sie war unmodern gekleidet. Das spürte und sah sie selbst. Und sie wollte sicher so aussehen wie die anderen. Schon in Heidelberg war ihr das so ergangen. Sie wollte dazugehören und muss wohl dieses Problem auch schon in Namibia gehabt haben, warum auch immer.
Und so fragte ich sie, ob sie nicht Lust habe, mit mir einkaufen zu gehen. „Weißt Du, ich brauche ein paar Kleinigkeiten und Dir kaufen wir vielleicht dann auch eine Jeans und ein paar T-shirts… Wie wärs?“
Ja, oh ja, das würde ich gerne tun. Kommt Ihr alle mit?“
Tja, das war wohl der erste kleine Erfolg und ich dankte der Mutter innerlich für ihr offenes Telefonat. Mal sehen, wie es jetzt weitergehen würde.
Wir kauften 3 verschiedene Jeans und einige T-shirts, dazu noch eine rote Jacke, die es ihr angetan hatte. „Ist das jetzt meins,“ fragte sie und ich erwiderte: „Na, ich passe da nicht rein und die Jungs auch nicht. Also Deine Sachen.“
Strahlend tanzte sie den ganzen Nachmittag durch unseren Garten.
Zwei Tage später fragte sie mich nach der Schule: „Sag mal, eine Klassenkameradin hat mich zu sich nach Hause eingeladen für heute Nachmittag. Kann ich da hingehen?“ – „Möchtest Du denn?“, fragte ich zurück. „Ich bin heute das erste mal in meinem Leben eingeladen worden. Da möchte ich gerne hingehen.“ – „Na, klar, dann geh dahin, Ich finde es toll.“
Das muss ein wunderbarer Tag für sie gewesen sein, sie hatte in der Schule über Namibia berichtet, selbstbewusst und begeistert, wie mir die Lehrer berichteten und das erste Mädchen hatte sie eingeladen. Als sie am Abend zurückkam, war sie wie ausgewechselt. Aufgekratzt und fröhlich wie alle anderen im Hause.
Später beschrieb sie auch ihre Schule in ihrem Land und meinte, dass sie immer ausgegrenzt wurde. In Namibia vielleicht, weil sie gerne lernte. Und das war für die meisten Kinder ungewohnt und man empfand sie als Streberin. Dabei wollte sie vermutlich auch nur etwas gut und richtig machen, um dafür gelobt zu werden.
Als sie nach ein paar Monaten wieder nach Hause flog, war ihre einzige Angst, dass sie vielleicht ein bisschen dick geworden wäre. Später schrieb sie mir, dass ihr Vater sie nicht wiedererkannt hätte. Sie wäre so hübsch angezogen gewesen. Darauf habe ich nur geantwortet: „Er hat Dich nicht wiedererkannt, weil Du so hübsch bist.“
Meine Erfahrung war nun:
Kinder wollen nicht anders sein – Kinder wollen nicht ausgegrenzt werden – Kinder wollen erst einmal so sein wie andere.
Und dann holen sie sich, wenn sie sich genügend ausprobiert haben auch ihr Selbstbewusstsein.
40 Jahre später traf ich dieses „Kind“ wieder. Und ich muss sagen. dieses Kind hat sich toll entwickelt. Aus der Raupe ist ein wunderschöner Schmetterling geworden: äußerlich und innerlich.
Alles ist gut!
