Tiefe Freundschaft

Heino Schweiger, der Chef der Grafik-und Design Gruppe, kam mit geheimnisvollem Gesicht ins Atelier, hatte einen jungen Mann im Schlepptau, den er dann als Ernesto vorstellte. Ernesto sollte unser neuer Chef-Dekorateur werden. Ein junger, angesagter, sehr begabter Gestalter, von dem wir schon viel gehört hatten. Der könnte wohl für ziemlich viel Unruhe in der Deko-Abteilung sorgen, weil der erste Dekorateur sich nicht so leicht von seinem angestammten Platz verdrängen lassen würde.

Ernesto war sehr nett und außerordentlich höflich und kooperativ. Wir im Atelier sahen ihn nicht oft. Aber manchmal kam er einfach nur so zu uns, weil er sich über das eine oder andere informieren wollte.

Einmal, ich musste Überstunden machen, weil ein dringender Entwurf am nächsten Morgen vorliegen sollte, kam er am Abend bei mir vorbei und wir unterhielten uns ein bisschen über unseren Werdegang. Und bevor ich mich selber stoppen konnte, fragte ich ihn, ob er schwul sei. Er hatte etwas Eigenartiges an sich und wirkte sehr sensibel. Ich wollte mich gerade zurücknehmen, da meinte er schon: „Ich wollte schon immer wissen, wann mir endlich mal jemand diese Frage stellen würde. Und nun weiß ich es. Ich finde es gut, dass Du fragst. Das macht es zwischen Dir und mir einfacher. Ja, ich bin schwul und hier in Bayern ist das sehr schwierig, wenn das rauskommt. Vielleicht mal in 30, 40 Jahren wird das anders sein. Aber jetzt, in diesen spießigen 60ern, ist das für mich gefährlich. Und ich bin dabei auch sehr einsam.“ Lange schwiegen wir beide. Dann plötzlich, auch ohne mich vorher kontrolliert zu haben, streckte ich meine Hand aus und sagte ihm, er solle mich als guten Freund betrachten.

Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und man munkelte über ihn und mich.

Sind sie ein Paar oder was ist das zwischen denen.“

Wir waren lange zwei Verschworene, liebten beide unseren Beruf und teilten viele Interessen miteinander, gingen in Ausstellungen, liebten Konzerte, klassische, und er mochte es auch, wenn ich Klavier spielte und sang.

Dann lernte er einen jungen Mann kennen, der das gleiche Geheimnis besaß wie er. Sie wurden ein Paar. Ich freute mich sehr für ihn und er blühte richtig auf.

Auch mir begegnete das Glück, so dass wir beide voneinander wussten, dass wir ein Stückchen Paradies erwischt hatten.

Ernesto kündigte eines Tages, weil er einen Blumenladen aufmachen wollte. Er hatte schon immer mit diesem Gedanken gespielt und nun war die Zeit reif für ihn. Als ich die ersten Male in seinem kleinen Blumenladen war, sein Partner Peter war bei ihm, da fühlte ich richtig mit ihm, dass er genau das richtige getan hatte. Ich sah nie zuvor so wunderbare fantasievolle Blumensträuße, der gesamte Raum war weiß als würde er leuchten.

Einfach nur schön.

Auch ich zog mit meinem Partner nach Hannover, so dass wir uns nur noch sprechen und nicht mehr sehen konnten. Aber alles war gut.

Eines Tages besuchte er uns, weil er wissen wollte, ob es auch mir so gut ginge wie ihm. Er kam mit Peter und brachte mir einen wunderschönen Blumenstrauß mit, er schenkte mir Schmuck von seiner Mutter, damit ich hin und wieder an ihn denken sollte. Er war entzückt, unsere Kinder zu sehen und mein Mann hatte genauso viel Spaß an ihm wie ich. Es war ein schönes Treffen und nur harmonisch. „Weißt Du noch, erinnerst Du Dich…“ waren viele Male unsere Worte.

Wie viel Zeit dann vergangen war, weiß ich nicht mehr. Er rief mich eines Tages an, um mir zu sagen, dass er Aids habe. Darauf war ich nicht vorbereitet. Auch Peter, sein Freund und Partner, hatte Aids. Aber bei Ernesto war die Krankheit schon weiter fortgeschritten. Er fragte, ob ich ihn nochmal sehen wollte, weil er nicht mehr so lange zu leben hätte. Und wie immer, wenn ich mit ihm sprach, redete ich, ohne erst darüber nachzudenken.

Nein, das will ich nicht. Das kann ich nicht. Ich werde Dir schreiben.“

Dann legte ich auf. 

Erinnerte er sich noch daran, wie ich ihm mal erzählte, als mein Vater starb und meine Mutter fragte, wer ihn von uns Kindern nochmal sehen wollte. Ich wollte damals, wurde aber das Bild, wie er aussah, nie wieder los. Er sah nicht schlecht, sogar friedlich aus, aber so tot, so unendlich tot.

Ich setzte mich gleich an einem der nächsten Abende hin, um ihm zu schreiben. Es war der liebevollste Brief, den ich je schrieb und mein Herz schrieb mit.

Tage danach rief mich Peter an und sagte nur:

Ernesto ist tot.“

„Hat er noch meinen Brief bekommen,“ fragte ich verzweifelt. „Nein, es kam kein Brief mehr von dir.“

Zwei Tage danach erhielt ich meinen Brief zurück. „Verzogen“ stand darauf. Ich hatte nicht daran gedacht, dass er vielleicht schon im Sterbehaus gepflegt wurde. Ich rief nochmal bei Peter an. Er meldete sich nicht mehr. Nie mehr.

Es war eine schwere Zeit für mich,in der ich mir eingestehen musste, etwas Wichtiges falsch gemacht zu haben.

Drei Monate später hatte ich Geburtstag. Es klingelte an der Tür. Ich öffnete und jemand übergab mir einen Blumenstrauß. Eine Karte steckte darin. 

Meine einzige Freundin!

Du hast heute Geburtstag. Noch einmal sollst Du einen schönen Blumenstrauß von mir bekommen. Ich hoffe, die Leute machen ihn so, wie ich ihn beschrieben habe. Viele weiße Margeriten…

Du warst mir ein wunderbarer Wegbegleiter. Ein Retter!

Wir sehen uns wieder.

Ernesto