„Will nur nochmal ganz schnell die Welt retten. Habe ein Lied gehört mit diesem Refrain. Den Rest habe ich kaum verstanden. Aber der Titel gefiel mir sehr gut zu versuchen, die Welt zu retten. Nur, wie macht man das? Schließlich bin ich 55 und glaube nicht mehr an den Weihnachtsmann, höchstens daran, dass irgendwann alles gut wird. Aber wann ist alles gut? Ich schaffe es ja noch nicht einmal, streitfrei mit meiner Tochter zu kommunizieren. Unentwegt geht sie rücksichtslos mit ihrer Wahrheit um. Aber ihre Wahrheit ist nicht meine Wahrheit!“ Seufzend setzte Martha sich auf die Bank und spielte ein bisschen mit dem Handy. Eigentlich wollte sie ihre Tochter anrufen, weil es ihr nicht gefiel, immer nur böse Worte mit ihr zu tauschen.
Fragte sie nach, was sie in den nächsten Tagen vorhabe zu tun, kam prompt jedes Mal: „Das braucht Dich doch nicht zu interessieren.“ Oder sie wollte wissen, wann ihre Tochter in den Urlaub fliegen wollte, dann kam sofort die Antwort, „Sei nicht so indiskret.“ Darauf fragte sie schon gar nicht mehr, wohin sie fliegen wolle, denn die Antwort wäre wieder schrecklich gewesen. Was hatte sie diesem Kind nur getan?
Martha trank ihre Tasse Kaffee, heute ausnahmsweise mit Sahne, weil sie zu sich selbst mal nett sein wollte. Es gab ja sonst keinen mehr, der liebevoll mit ihr sprach und vertraut war.
Also, ich kann die Welt nicht retten, denn ich schaffe es ja noch nicht mal, meine Tochter ein bisschen glücklich zu machen, geschweige denn wenigstens zufrieden!“
Das Telefon klingelte und sie wollte eigentlich bei dieser miesen Stimmung, die sie hatte, gar nicht dran gehen. Sie zögerte und dann hörte das Telefon auf zu klingeln.
Martha bereitete das Abendessen vor, später schaute sie noch die Nachrichten an und da sie sehr müde und erschöpft war, ging sie früh zu Bett.
Es war eine unruhige Nacht und sie schlief nicht besonders gut.
Am anderen Morgen ging es ihr kaum besser und sie blieb tief niedergeschlagen. Wieder klingelte das Telefon. Sie kannte diese Nummer nicht. Doch als sie den Hörer abhob, hörte sie die Stimme ihrer Tochter. Diesmal fragte sie nichts und blieb dazu sehr still, denn Anna sprach ganz schnell und hastig. „Mama, ich wollte Dir nicht wehtun. Ich liebe Dich. Aber ich kann es nicht ertragen, dass Du mich immer nach meinem Leben ausfragst und dann auch noch urteilst, ob es gut ist oder nicht.“
Im gleichen Augenblick klingelte es an der Türe und Martha öffnete sie zögernd, während sie noch weiter hörte, was die Tochter sagte…
Da stand Anna vor der Tür und fiel ihr in die Arme und beide fingen an zu weinen. Lange sprachen sie nicht. Endlich warf Anna ihre Kleidung und die Taschen weg und schleppte ihre Mutter zu ihrem Lieblingssessel, um sich neben sie gemütlich wie früher auf die Armlehne zu kuscheln.
Nun redete zum ersten Mal die Mutter nach langem Schweigen.
„Du hast recht, ich wollte immer zu viel von dir wissen. Und ich habe nur eine Entschuldigung, damit es ein bisschen zu verstehen ist: In meiner ersten Schwangerschaft verlor ich mein Kind im 6. Monat, mein zweites starb, als es zwei Monate alt war. Und dann kamst Du. Du warst gesund und süß und ich sehr glücklich. Dann verließ mich mein Mann und wir waren allein. Ich wollte alles richtig machen, wollte dich nicht nur lieben, sondern auch erziehen und alles mit dir teilen. Irgendwie habe ich Dich im Laufe der Jahre mehr und mehr in Besitz genommen und Du hast Dich nicht gewehrt. Das tut mir leid. Aber ich hatte immer Angst. Und dann gingst du weg und ich fand das gut und richtig. Doch du hast einfach nichts mehr mit mir geteilt. Nicht Deine Freuden, nicht Deinen Kummer, nicht die Erlebnisse und Deine Freunde. Dabei hätte ich das wissen müssen, dass Du auf eigenen Füßen stehen wolltest und musstest. Ich glaube, ein bisschen fehlt mir, dass ich nie oder kaum über mein altes Leben geredet habe. Und jetzt will ich es Dir nur erklären. Vor ein paar Tagen hörte ich dieses Lied ‚Ich will nur noch schnell die Welt retten‘ oder so ähnlich und dabei fiel mir ein, dass ich noch nicht mal meine Tochter glücklich machen konnte. Wie kann man dann eine Welt versuchen zu retten oder glücklich zu machen? Das war die schrecklichste Erkenntnis dabei.“ Und fügte noch ein bisschen schüchtern hinzu:
Ich glaube, das war die längste Rede meines Lebens.“
Leise kam Annas Stimme und sie sagte nur: „Das wusste ich nicht, Mama. Warum hast Du nie darüber gesprochen?“ — „Ich dachte, ich würde Dich damit belasten!“ — „Vielleicht, aber das hätte ich dann selbst entscheiden können!“ — „Siehst Du,“ erwiderte Martha,“ ich habe sogar schon für Dich gedacht! Wie schrecklich!“ Dann kam eine lange Pause von beiden und sie sagten kein Wort.
Endlich aber fing Anna an zu lächeln und meinte: „Dann retten wir nicht die Welt, sondern uns!“