Liebe Daniela,
gestern habe ich Dich das erste mal nach den Ferien wieder gesehen. Ich bin so froh darüber. Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne. Deine Augen strahlen in dunklen Samtfarben und wenn ich Deinen vollen Mund sehe, träume ich von Deinen Küssen. Ich habe so lange geschwiegen, weil ich dachte, Du lachst mich aus, weil ich im Gegensatz zu Dir nichts besonderes bin.
Möchtest Du mit mir gehen?
Dein… ich kann noch nicht sagen, wer ich bin.
Daniela hielt die Zeilen in der Hand. Dieser Brief steckte in ihrer Schultasche im Deutschheft. Sie war sehr erschrocken darüber und noch immer dachte sie, dass sie jemand auf den Arm nehmen wollte.
Sie und hübsch oder schön. Immer wurde sie geärgert, dass sie ein Fischmaul habe und dazu Glubschaugen, was immer das auch bedeutete. Und nun las sie, dass sie schöne Lippen habe und Samtaugen. Dass sich jemand gefreut hatte, sie wieder zu sehen. Ach, wenn es doch wahr wäre, dass es etwas schönes an ihr gab. Sie ging zum Spiegel und schaute sehr kritisch ihr Spiegelbild an.
Die Lippen waren dick wie immer und die Augen hatten nichts von Samt. Jetzt war sie 17 Jahre alt und so viel Schönheit würde wohl in den nächsten Jahren nicht dazukommen.
Sie wollte ihre Mutter fragen, was sie von diesem Brief halten sollte. Sie würde Mama nicht fragen, ob sie hübsch sei. Mama fand sie immer hübsch.
„Mama, lach nicht und lies mal diesen Brief. Was soll ich damit tun.“
Ihre Mutter nahm den Brief, las ihn und ein liebes Lächeln überzog ihr Gesicht.
„Ach, Dani, ist das ein niedlicher wunderbarer Liebesbrief.“
„Was soll ich damit, Mama?“
“ Als erstes ihn mal ganz fest halten und Dich freuen!“
„Na, und dann? Ich weiß ja noch nicht einmal wer ihn geschrieben hat. Und ob er ernst gemeint ist.“
„Diesem Brief würde ich trauen. Er hat sicher seinen Namen noch nicht drunter geschrieben, weil er vielleicht noch ein bisschen unsicher ist, ob Du etwas für ihn empfindest. Gibt es denn einen Jungen aus Deiner Klasse, den Du magst?“
„Ja, es gibt nur einen. Die anderen sind nicht nett und meist sehr angeberisch. Es ist Ben, den mag ich! Den mag ich sogar sehr!“
„Hat er denn schon öfter mit Dir gesprochen?“
„Nein, Mama, hinter dem sind die meisten Mädchen her. Der sieht mich gar nicht!“
Die nächste Deutschstunde kam. Daniela schaute immerzu alle Jungs an, um heraus zu finden, ob es den einen oder anderen gäbe, der Blicke auf sie warf. Da gab es aber keinen.
Lehrer Kleist nahm derweil den Unterricht auf und man besprach ein Liebesgedicht, was die meisten Jungen ziemlich blöd fanden. Die Mädchen konnten es besser formulieren und schämten sich nicht, Liebesschwüre und ähnliche romantische Worte in den Mund zu nehmen. Und nur Frank konnte mithalten im Geschwafel der Romantik.
Kurz dachte Daniela daran, ob vielleicht Frank den Brief geschrieben haben könnte? Dabei ging ihr Blick hinüber zu Frank, der neben Ben sass. Und da wusste sie: Es war Ben, der den Brief geschrieben hatte. Und dieser Blick war der Blick eines Jünglings, der verliebt ist, was selbst ein unsicheres Mädchen wie Daniela erkannte.
„Oh, Gott, ist das schön,“ dachte sie und dann: „Und wer von uns beiden macht nun den ersten Schritt?“ Nein, sie würde nicht auf ihn zugehen können. Wenn sie sich nun doch geirrt hätte. Wenn…
Es klingelte, die Stunde war zu Ende, Daniela hatte nichts behalten von dem, was in dieser Stunde besprochen wurde. Ben ging auf sie zu, wartete bis alle Schüler die Klasse verlassen hatten und sprach Daniela an: „Schau mal, was ich gefunden habe?“ Er hielt einen Kinderring aus dem Automaten in der Hand.“ Willst Du den haben? Ich finde, er passt zu Dir und zu Deinen Augen.“
„Hast Du den Brief geschrieben?“ Ben nickte, während er den Ring zwischen den Fingern drehte. „Ja,“ sagte Daniela, „dann möchte ich ihn sehr gerne haben.“