Die kleine Holly war die letzten Weihnachtswochen sehr unruhig und fürchtete, dass sie das Fest verpassen würde. Eines Nachmittags zog sie ihren Mantel an und machte einen Spaziergang durch den leise rieselnden Schnee, um den Kopf ein bisschen frei zu kriegen. Mit ihren 14 Jahren bekam sie schon genug von den Sorgen der Welt mit, der Menschen, den Armen und den Reichen, der Angst der Jugend, dass sie die Welt nicht retten könnten und irgendwann verhungern müssten. Das alles ließ sie unruhig werden. Und als auch noch der Krieg in der Ukraine ausbrach, wurde ihr Herz ganz schwer. Immer wieder sprachen sie in der Schule über all diese Geschehnisse und diskutierten darüber, was man tun könne, um das Chaos zu stoppen.
Sie lief und lief bis zum Wald, ohne zu bemerken, dass es schon früh dunkelte. Und als sie die Dämmerung wahrnahm, wurde sie ein bisschen ängstlich und fürchtete nun wirklich, dass sie nicht rechtzeitig zum Fest wieder daheim wäre. Sie fing an, sich wieder zu orientieren. Aber sie hatte das Gefühl, dass es trotz des Schnees immer dunkler wurde, und sie erkannte den Weg nicht mehr. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, legte den Schal enger um den Kopf, denn die Ohren waren schon ganz kalt. Dann zog sie die langen Ärmel ihres Pullovers aus dem Mantel, um darin ihre kalten Hände zu wärmen.
Aber irgendwann war sie durch ihre Angst, den hastigen Atem und den vielen Gedanken so weit, dass sie sich nur noch irgendwo hinsetzen wollte, um auszuruhen. Sie tappte zu einem Baum, wo sie sich am Fuße niederließ, kuschelte sich ein und legte den Kopf auf die Knie.
Wie dumm von mir, wie dumm,“
sprach sie laut vor sich hin. „Ich kann die Welt auch nicht retten, aber versuchen, doch ein bisschen glücklich zu sein. Und nun verpasse ich mein Fest. Was werden die anderen sagen? Wird mich einer vermissen und dann auch finden?“
Darüber dusselte sie wieder ein bisschen ein. Wenn es Geräusche gab, zuckte sie im Halbschlaf zusammen. „Ich fürchte mich,“ stammelte sie leise, krümmte und streckte die Glieder.
Plötzlich griffen zwei Hände nach ihr und riefen: „Holly, Holly, wach auf. Was hast Du denn?“ Holly öffnete die Augen ein kleines bisschen und schloss sie wieder. Dann machte sie die Augen ein wenig weiter auf und dann fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie konnte es kaum glauben. Sie lag in ihrem Bett. Wieso lag sie in ihrem Bett? Hatte man sie gefunden? „Nein,“ meinte ihre Schwester, „Du hast so viele Geräusche im Schlaf gemacht und gestöhnt, dass ich Angst hatte, Du wärst krank.“ — „Lass mich die Augen nochmal schließen,“ flüsterte Holly und dann öffnete sie sie von allein, fühlte die Bettdecke, lag im Kissen und es war ganz warm. „Ich habe geträumt, ich habe nur geträumt,“ sagte sie vor sich hin.
Danke , lieber Gott, ich habe wirklich nur geträumt.“
Dann erzählte sie ihrer Mutter, was sie alles geträumt hatte und wie schlimm es um die Welt bestellt sei. Sie wolle jetzt kein Fleisch mehr essen, zu allen Ausländerkindern lieb sein, keine Kleidung einfach wegwerfen, und, und, und… Da lachte die Mutter sie liebevoll an und meinte nur: „Du musst nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Fang mit einer Sache an. Und die halte durch! Hast Du nicht gesagt, dass zwei Mädchen aus der Ukraine in Deiner Klasse sind? Die kannst Du öfter mal einladen!“ — „Ja, und denen kann ich Deutsch beibringen. Dann sind sie nicht mehr so alleine in der Klasse. Vielleicht wird ihr Heimweh dann auch weniger werden, wenn sie mehr mit uns reden können!“ — „Ja, vielleicht kannst Du dann auch den einen oder anderen Pullover entbehren.“ — „Ja, auch das! Ich bin froh, Mama, dass ich den Traum hatte.“
Jetzt konnte Weihnachten kommen.
Dankbarkeit ist die Erinnerung des Herzens.